Getäuscht - Thriller
Hundert-Meter-Lauf. Dann stürzte er vornüber auf die Felsen, landete auf dem Dach und überschlug sich mehrmals, bis er am Fuß der Schlucht auf den Rädern zum Stehen kam.
Unter dem Fahrgestell züngelte eine unschuldige kleine Flamme.
»Los, in den Wagen!« Kate sprang auf den Fahrersitz, fuhr die Straße hinunter und jagte um die nächste Kurve, bis sie die Stelle erreichte, an der Ransom die Leitplanke durchbrochen hatte. So schnell sie konnte, rutschte sie den Berghang hinunter und suchte die Umgebung nach einem Lebenszeichen von Ransom ab. Plötzlich stieg eine Stichflamme vom Wrack auf, und mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte der Benzintank. Kate wurde zu Boden geschleudert. Eine fürchterliche Hitzewelle raubte ihr den Atem.
Vorsichtig rappelte sie sich auf und versuchte, näher an das brennende Wrack heranzukommen. Als die Hitze unerträglich wurde, blieb sie stehen. Sie war ohnehin nahe genug, um die Gewissheit zu haben, die sie brauchte: Sie konnte den Mann, der zusammengesunken über dem Lenkrad hing, genau sehen. Das Feuer hatte ihn übel zugerichtet, aber die kurzen Haare und das dunkle T-Shirt ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um Ransom handelte.
Kate machte kehrt und stieg den Hang hinauf. Oben angekommen, zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief Graves an.
»Ja«, meldete er sich. »Was gibt's?«
»Jonathan Ransom ist tot.«
64.
Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht, dass die Spionage zwischen dem Osten und dem Westen eingestellt wurde. Nach einer kurzen Phase der Annäherung verhärteten sich die Fronten zwischen den USA und den verbündeten NATO-Staaten einerseits und der ehemaligen Sowjetunion andererseits, und das Gesprächsklima wurde so eisig wie zuvor. Alle Anstrengungen der westlichen Staaten, demokratische Reformen in Russland einzuleiten, schlugen fehl. Die Pläne für eine Erneuerung der Wirtschaft führten im Spätsommer 1998 zum folgenschweren Zusammenbruch des Rubels. Russland war pleite und büßte seine Stellung als Weltmacht ein. Gedemütigt und tief verwundet sann das Land auf Rache. Ein neuer Präsident, ein ehemaliger Geheimdienstagent, der sich von der Vergangenheit inspirieren ließ, übernahm das Ruder. Er wollte allen beweisen, dass Russland nur eine starke Hand brauchte, um wieder zu altem Glanz und Ruhm emporzusteigen. Alle kritischen Stimmen im eigenen Land wurden nachhaltig zum Schweigen gebracht. Im Ausland bemühte er sich mit Kräften, das Ansehen seines Landes zu steigern. Aber in die Beziehungen zu den USA und den NATO-Staaten mischte sich ein scharfer Unterton, den es zuvor nicht gegeben hatte. Dieses Mal nahm man die Dinge sehr persönlich, wie die Amerikaner es auszudrücken pflegten.
Niemand wusste das besser als Charles Graves und seine Kollegen beim MI5. Im Jahr 1988 hatte es in der russischen Botschaft zweihundert Beschäftigte gegeben. Five ging davon aus, dass ungefähr siebzig von ihnen an der Akademie des russischen Inlandsgeheimdienstes in Jasenovo ausgebildet worden waren. »Die Moskauer Clique« wurden sie im Fachjargon genannt. Bis 2009 war die Anzahl der Mitarbeiter in der neuen russischen Botschaft an den Kensington Gardens auf mehr als achthundert angestiegen, unter denen sich vermutlich gut vierhundert ausgebildete Agenten befanden. Allein die Masse machte es für den MI5 nahezu unmöglich, diejenigen zu identifizieren, die in der Organisation Rang und Namen hatten und über Macht und Wissen verfügten. Und obwohl auch der MI5 die Zahl seiner Mitarbeiter inzwischen fast verdreifacht hatte, war der britische Geheimdienst trotzdem nicht in der Lage, seinem ehemaligen Hauptkontrahenten auf den Zahn zu fühlen, weil sich ihre Hauptaufgabe inzwischen auf die Terrorabwehr im eigenen Land verlagert hatte.
Es überraschte Graves also nicht, dass er noch nie von dem russischen Botschaftsangehörigen David Kempa gehört hatte, Sekretär für kulturelle Angelegenheiten und hochrangiger FSB-Agent. Auch dass das malerische Stadthaus Nr. 131 an der Princes Mews ein FSB-Quartier war, hatte Graves nicht gewusst.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte der Russe.
»Nein, danke«, sagte Graves. »Ich bin ein bisschen in Eile.«
Kempa goss sich einen Stolichnaya ein und ruinierte sich den Genuss des exquisiten Wodkas, indem er das Glas mit einer halben Dose Red Bull auffüllte. Kempa war ein junger, dynamischer Mann mit festem Blick, strubbeligem braunem Haar und geschmeidigen Bewegungen. Mit seinem Sex-Pistols-T-Shirt und
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