Geteiltes Geheimnis
Orleans?«
»Seltsam, ich weiß. Und Sie?«
»Ich bin Kellnerin.«
»Ist ja nicht schlimm.« Wieder dieses Lächeln.
Mit natürlicher Leichtigkeit setzten wir das Gespräch fort, über die Instrumente, die er spielte (er war Sänger, spielte Bass, gab nebenbei Klavierstunden), und das Café, in dem ich arbeitete (er kannte es, war nur länger nicht dort gewesen). Der nächste Schritt im Gespräch mit jemandem, der vom Tourismus in seiner Stadt abhängig ist, besteht darin, über die schreckliche Notwendigkeit der schrecklichen Touristen zu reden. Anschließend tauscht man Informationen über die Orte aus, die diese schrecklichen Touristen nicht kennen. Das schafften wir innerhalb von zwanzig Minuten. Genug Zeit für Mark, um sein Sandwich zu essen, die Hälfte des Kaffees zu trinken, sich den Mund mit der Serviette abzuwischen und aufzustehen, um zu gehen. Ich schätzte ihn auf um die dreißig, etwas jünger als mich, was wohl an dem zerzausten braunen Haar, den beigen Ledersneakers, der engen Jeans und dem verwaschenen, roten T-Shirt mit dem Namen und der Nummer einer Autolackiererei lag. Musiker haben wirklich wunderschöne Hände. Man sagt, dass die Hand Teil des Instruments ist.
»Warten Sie«, sagte ich. »Wollen Sie es vielleicht nochmal versuchen, mit mir irgendwann zu Mittag zu essen? So wie heute, keine Unterhaltung, kein Augenkontakt, nur zwei Fremde, die ihre Mahlzeit nicht zusammen einnehmen.« Heilige Scheiße. Hatte ich das wirklich gerade gesagt?
»Äh, klar«, sagte er lachend. »Sie scheinen mir harmlos zu sein.«
Ja, harmlos. Wenn man von der Tatsache absah, dass ich vor knapp zwei Monaten fast nackt vor Fremden auf der Bühne getanzt und mit meinem Boss geschlafen hatte, dann durch die schwangere Freundin aus der Bahn geworfen worden war und mich anschließend einer geheimen Organisation angeschlossen hatte, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, Sexfantasien für Frauen mit völlig fremden Männern zu realisieren. Harmlos traf’s ganz gut.
»Na gut … geben Sie mir Ihre Nummer«, sagte ich und kramte mein Handy aus der Handtasche.
Er nahm es und tippte seine Nummer ein. »Okay. War nett, Sie nicht kennenzulernen, Cassie, und nicht mit Ihnen zu Mittag zu essen oder mit Ihnen zu reden oder irgendetwas von Ihnen zu erfahren«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
Ich lachte, als er sich zum Gehen wandte und mir über die Schulter noch einen Blick zuwarf. Wow. Das war so … einfach. Lernte man so unkompliziert Männer kennen? Ich sonnte mich einen Augenblick in meinem neu gefassten Mut. Ich hatte es getan. Zum ersten Mal im Leben hatte ich einen Mann, dazu noch so einen süßen, um ein Date gebeten. Aber warum war das fast genauso schwer wie die Hälfte der Dinge, die ich letztes Jahr getan hatte, vor Männern, die ich noch nie zuvor gesehen hatte? Das alles – Männer, Dating, Sex – erforderte Übung. Durch mein Jahr der Fantasien verstand ich, dass auch mein Tagtraum von Will mir den Mut gegeben hatte, mit Mark zu flirten.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und war stolz auf mich. Da hörte ich ein Murmeln. Ich blickte mich um und entdeckte eine rothaarige, junge Frau mit einer riesigen Sonnenbrille, die mich vom Tisch nebenan anstarrte. »Was ist mit mir geschehen? Wie tief bin ich gesunken?«, sagte sie und sah vollkommen fassungslos aus.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte ich sie.
Vielleicht hatte sie ja einen Schlaganfall, dachte ich, nahm ein Glas Wasser und ging zu ihr hinüber. »Hier«, sagte ich und stellte das Glas vor sie hin. »Geht es Ihnen gut?«, fragte ich noch einmal.
Sie nickte und rieb sich den Nacken. Sie war nicht viel älter als dreißig, aber trotz der Hitze trug sie ein schweres, blaues Kleid, das sie viel älter erscheinen ließ. Sie trank einen tiefen Zug und wischte sich den Mund. Dann gewann sie ihre Fassung wieder. »Tut mir leid«, sagte sie. »So etwas ist mir noch nie passiert. Ist vielleicht die Hitze.«
»Für Anfang April ist es ja wirklich ziemlich heiß«, antwortete ich.
»Vielleicht.« Sie trank noch einen Schluck. »Sorry. Ich will nicht aufdringlich sein, aber das, was Sie da gerade mit dem Mann gemacht haben – ihn zu einem Rendezvous zu bitten? Sehr beeindruckend.«
»Sie haben das beobachtet?«
»Ich schwöre Ihnen, dass ich sonst nicht so neugierig bin. Aber das war kaum zu übersehen.«
Ein seltsames Kompliment von einer seltsamen Fremden, aber ich nahm es an. »Es war beeindruckend, nicht wahr?«, sagte ich, und sogar
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