Getrieben - Durch ewige Nacht
unterhaltsamer als dieses Gerangel, dachte er.
Diesen Teil des Kriegsherrendaseins hatte er nie gewollt. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie er fast vierhundert Menschen ernähren sollte, wenn die Wintervorräte aufgebraucht waren, bevor die erste Ernte des Frühjahrs eingebracht werden konnte. Nie hätte er sich vorstellen können, die Hochzeit eines Paars abzusegnen, das älter war als er selbst. Oder die Augen der Mutter eines fiebernden Kindes auf sich gerichtet zu sehen, die nach einer Antwort verlangte. Wenn Mollys Heilmittel nicht wirkten, wandten sie sich an ihn. Sie wandten sich immer an ihn, wenn etwas schiefging.
Bears Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Was sagst du dazu, Perry?«
»Ich weiß, dass ihr Hilfe braucht, alle beide. Aber ihr müsst warten.«
»Ich bin Bauer, Perry«, wandte Rowan ein. »Ich tauge nicht zum Bogenschießen.«
»Lern es trotzdem«, entgegnete Perry. »Es könnte dir eines Tages das Leben retten … dir und anderen.«
»Vale hat so etwas nie von uns verlangt, und uns ist trotzdem nichts geschehen.«
Perry schüttelte den Kopf. Er traute seinen Ohren nicht. »Die Dinge haben sich geändert, Rowan.«
Gray trat vor. »Wir werden im nächsten Winter verhungern, wenn wir nicht bald die Saat ausbringen.«
Der selbstsichere, fordernde Ton in seiner Stimme ließ Perry aufhorchen. »Möglicherweise werden wir im nächsten Winter nicht mehr hier sein.«
Rowan stutzte und runzelte die Stirn. »Wo werden wir denn dann sein?«, fragte er aufgebracht. Er und Gray wechselten einen Blick.
»Du hast doch nicht wirklich vor, uns in die Blaue Stille umzusiedeln?«, hakte Gray nach.
»Wir haben vielleicht keine andere Wahl«, erwiderte Perry. Er erinnerte sich daran, dass sein Bruder denselben Männern Befehle erteilt hatte, und bei ihm hatte es keine Widerrede gegeben. Vale hatte sie nicht überzeugen müssen – sie hatten ihm einfach gehorcht.
»Die Reise zu den Hörnern dauert Wochen«, gab Bear zu bedenken. »Willst du die Tiden so lange allein lassen?«
In dem Moment kam Brooke herüber. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte: »Perry, was ist los?«
Perry erkannte, dass er sich während der vergangenen Minuten die Nase gerieben hatte. Tief in den Nebenhöhlen spürte er ein heftiges Brennen, und als er aufschaute, stieß er einen unterdrückten Fluch aus.
Die Wolkendecke war endlich aufgerissen. Hoch oben sah er den Äther. Aber er floss nicht in trägen, schimmernden Strömen, wie es für diese Jahreszeit normal gewesen wäre, sondern schnell und gleißend hell. An einigen Stellen wand er sich wie Schlangen und bildete Trichter, die auf die Erde niedergehen und sie mit Feuer überziehen würden.
»Das ist ein Winterhimmel«, stellte Rowan verwirrt fest.
»Dad, was ist los?«, fragte einer von Grays Söhnen.
Perry wusste genau, was los war. Er konnte das, was er da oben sah, nicht leugnen – ebenso wenig wie den brennenden Schmerz in seiner Nase.
»Lauft sofort nach Hause!«, befahl er den Männern und rannte dann ins Dorf. Wo würde der Sturm zuschlagen? Im Westen, über dem Meer? Oder direkt hier bei ihnen? Perry hörte ein Signalhorn, dann weitere in der Ferne, die die Bauern alarmierten, damit sie sich in Sicherheit brachten. Er musste die Fischer erreichen, die schwerer zu verständigen waren.
Perry stürmte durch das Haupttor auf die Lichtung und sondierte die Gesichter der Menschen, die einander panisch anschrien und in ihre Häuser eilten.
Roar lief auf ihn zu und rief: »Was soll ich tun?«
»Such Aria.«
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Aria
| Kapitel Sechs
Der Regen setzte urplötzlich ein und wurde mit einem Windstoß herangetragen, der Aria wie ein kalter Schlag traf. Sofort sprintete sie zum Dorf zurück, über den Pfad, auf dem sie den ganzen Morgen gewandert war und darüber nachgedacht hatte, wieso Welten plötzlich ins Stocken geraten und erstarren konnten. Ihre Messer schlugen in einem beruhigenden Rhythmus gegen ihre Oberschenkel, während sie dem Pfad durch den Wald folgte, begleitet vom peitschenden Wind.
Als ein Signalhorn ertönte, blieb sie abrupt stehen und blickte nach oben. Durch die Lücken in den Regenwolken sah sie breite Ätherströme. Wenige Sekunden später hörte sie das unverkennbare Kreischen eines Äthertrichters – ein schrilles, ohrenbetäubendes Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Sturm?
Jetzt?
Die Stürme hätten für dieses Jahr doch eigentlich vorbei sein sollen.
Aria lief weiter, noch schneller
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