Getrieben - Durch ewige Nacht
»Danke, Molly.«
»Ich weiß nicht, warum du da oben hockst, während die anderen bei dir zu Hause im Warmen sitzen«, bemerkte sie und eilte davon.
Aber Molly wusste es. In einem so kleinen Stamm gab es nur wenig Geheimnisse. Alle wussten von seinen Albträumen. Hier oben konnte er die schlaflose Zeit zumindest damit verbringen, die Gerüche in der Brise zu lesen und das Spiel des Lichts in den Wolkenlücken zu beobachten. Was für ein seltsamer Frühling, mit einer ständigen Wolkendecke am Himmel. Sosehr Perry den Äther auch fürchtete, irgendwie hätte er sich besser gefühlt, wenn er ihn jetzt hätte sehen können.
Als Perry das Dorf im Morgengrauen verließ, schloss Brooke zu ihm auf, ihren Bogen und Köcher über der Schulter. »Wo willst du hin?«, erkundigte sie sich.
»Genau dahin, wohin auch du läufst«, erwiderte er. Brooke war eine Seherin und zählte zu den besten Bogenschützen des Stammes. Perry hatte ihr die Aufgabe übertragen, allen Tidenbewohnern das Bogenschießen beizubringen. Ihr Unterricht fand ganz in der Nähe des Feldes statt, auf dem er sich mit Bear treffen wollte.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher; es war eine merkwürdige Situation. Perry bemerkte, dass sie noch immer eine seiner Pfeilspitzen an einem Lederband um den Hals trug, und er versuchte, nicht an den Tag zu denken, als er sie ihr gegeben hatte, und was dieser Moment für sie beide bedeutet hatte. Er mochte sie gern, und das würde sich auch nie ändern. Aber zwischen ihnen war es vorbei. Er hatte es ihr im Winter so behutsam wie möglich beigebracht und hoffte, dass sie es bald auch so sehen würde.
Als sie das Feld im Osten des Dorfes erreichten, drohte dort bereits ein Streit zu eskalieren: Rowan und Gray, die beiden Bauern, die mehr Hilfe auf den Äckern verlangten, als Perry ihnen geben konnte. Zwischen ihnen stand Bear. Er war groß und kräftig, aber so sanft wie ein Kätzchen.
»Sieh dir das an«, sagte Rowan, der junge Bauer, dessen Kind am Abend zuvor Fieber gehabt hatte. Er hob den Fuß, und von seinem Stiefel tropfte Matsch. »Ich brauche eine Staumauer. Etwas, um das Geröll abzuhalten, das vom Berg herunterkommt. Und außerdem brauche ich mehr Abflussgräben.«
Perrys Blick wanderte zu dem Berghang in der Nähe. Ätherstürme hatten den unteren Teil zu Asche dezimiert. Als der Frühjahrsregen eingesetzt hatte, waren Schlamm und Geröll den Hang hinabgeströmt. Ohne die Bäume, deren Wurzeln die Erde festhielten, veränderte sich die gesamte Form des Berges.
»Das ist doch gar nichts«, meinte Gray. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Perry und Bear. »Die Hälfte meines Lands steht unter Wasser. Ich brauche Leute. Ich muss unbedingt den Ochsen einsetzen. Und ich brauche beides viel dringender als er.«
Gray hatte ein freundliches Gesicht und eine sanfte Art, aber Perry witterte häufig Groll bei ihm. Gray besaß keinen besonders ausgeprägten Sinn – wie die meisten Leute war er ein Sinnesloser –, aber er wollte das nicht akzeptieren. Als junger Mann hatte er Wächter werden wollen, aber diese Posten wurden nur an Horcher und Seher vergeben, die als Sinnesträger natürlich im Vorteil waren. Da ihm nicht sonderlich viele Möglichkeiten geblieben waren, hatte er schließlich den Beruf des Bauern ergriffen.
Perry hatte all das schon öfter von Gray und Rowan zu hören bekommen, aber er brauchte die Ressourcen, die sie verlangten – Arbeitskräfte, Pferde und Ochsen –, für wichtigere Aufgaben. Er hatte angeordnet, einen Verteidigungsgraben rund um das Dorf anzulegen und einen zweiten Brunnen beim Kochhaus zu graben. Außerdem ließ er die Mauern verstärken und das Waffenlager des Dorfs aufstocken. Und er wies jeden Tidenbewohner im Alter von sechs bis sechzig an, zumindest die Grundkenntnisse im Umgang mit Pfeil und Bogen und dem Messer zu erwerben.
Mit neunzehn war Perry sehr jung für einen Kriegsherrn. Er wusste, dass er als unerfahren galt. Ein wehrloses Opfer. Er war sicher, dass die Tiden im Frühjahr von umherziehenden Banden und Stämmen überfallen werden würden, die ihre Heimat an den Äther verloren hatten.
Während Gray und Rowan weiter ihre Beschwerden vortrugen, reckte und streckte Perry den Rücken und spürte seinen Schlafmangel. War er Kriegsherr geworden, um sich das hier anzusehen? Um durch matschige Felder zu waten und sich Zankereien anzuhören? Nicht weit entfernt brachte Brooke Grays sieben und neun Jahre alten Söhnen das Bogenschießen bei. Wesentlich
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