Getrieben - Durch ewige Nacht
dann wie Feuer über ihr Rückgrat ausbreiten würde. Sie wollte hier weg, aber sie brachte es nicht fertig, sich das Smarteye vom Auge zu reißen.
Sorens Stimme holte sie in die Opern-Welt zurück. »Übrigens, dieses blaue Kleid in Venedig war der Hammer. Absolut sexy. Und das mit dem Kaffee fand ich mega. Du hast meinen Vater echt geschockt.«
»Du hast mich
beobachtet
? Du bist widerlich.«
Soren schnaubte. »Wenn du wüsstest.«
Er würde mit ihr spielen, solange sie es zuließ. Aria bewegte sich zur Seite und trat aus dem Scheinwerferlicht. Dunkelheit umfing sie, aber dieses Mal empfand sie Erleichterung. Jetzt galten für beide die gleichen Spielregeln.
»Was soll das? Wo gehst du hin?« Sorens Stimme klang schrill vor Panik, und das spornte sie an.
»Bleib, wo du bist, Soren. Ich komm zu dir runter.« Das war gelogen, denn Aria konnte nicht weiter sehen als bis zu ihrer Nasenspitze. Aber er sollte ruhig ein Weilchen glauben, sie würde sich in der Dunkelheit an ihn heranschleichen.
»Was? Halt! Bleib auf der Bühne!«
Sie hörte ein dumpfes Poltern, als sei er hingefallen. Dann gingen plötzlich sämtliche Lichter in dem prächtigen Saal an.
Soren war in den Mittelgang gestolpert und stand dort mit dem Rücken zu ihr. Seine Atmung ging stoßweise, und sein schwarzes Hemd spannte sich über seinen wuchtigen Schultern. Er war schon immer sehr muskulös gewesen.
»Soren?« Ein paar Sekunden vergingen. »Warum schaust du mich nicht an?«
Hastig streckte er die Hand nach dem Sitz neben sich aus, als müsse er sich daran festhalten. »Ich weiß, dass mein Vater es dir erzählt hat. Tu nicht so, als hättest du keine Ahnung, was mit meinem Kiefer passiert ist.«
Plötzlich fiel es ihr wieder ein, und sie begriff endlich. »Er sagte, dein Kiefer musste rekonstruiert werden.«
»Rekonstruiert«, wiederholte er abschätzig, noch immer von ihr abgewandt. »Das ist so ein
harmloses
Wort für
fünf Brüche
und
Verbrennungen
in meinem Gesicht, die behandelt werden mussten.«
Aria musterte ihn und kämpfte gegen den Impuls, zu ihm zu gehen. Dann verfluchte sie sich selbst, weil sie so neugierig war, und stieg die Treppe hinunter. Ihr Herz pochte heftig, als sie am Orchestergraben vorbei den Gang entlanglief. Sie zwang sich weiterzugehen, bis sie vor ihm stand.
Soren starrte auf sie herab. Seine braunen Augen funkelten vor Zorn, und er hatte die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie einem Strich glichen. Er hielt den Atem an – genau wie sie.
Er sah eigentlich aus wie immer. Braun gebrannt, schwere Knochen, auf herbe Art attraktiv, die Konturen seines Gesichts ein wenig zu scharf geschnitten. Er hielt den Kopf herablassend zur Seite geneigt. Unwillkürlich verglich Aria ihn mit Perry, der trotz seiner Größe nie auf jemanden herabsah.
Soren hatte sich kein bisschen verändert, bis auf eine entscheidende Kleinigkeit: Sein Kiefer war leicht verschoben, und eine Narbe zog sich vom linken Mundwinkel bis zum Kieferknochen über seine bronzefarbene Haut.
Für diese Narbe war Perry verantwortlich. An jenem Abend in Ag 6 hatte er verhindert, dass Soren sie erwürgte. Sie wäre jetzt
tot
, wenn Soren diese Narbe nicht hätte. Aber er war nicht bei Sinnen gewesen. Er litt unter dem Degenerativen Limbischen Syndrom – einer Schädigung des Gehirns, die die Überlebensinstinkte schwächte. Ihre Mutter hatte diese Krankheit erforscht.
»So schlimm sieht es gar nicht aus«, stellte Aria fest. Natürlich wusste sie, wie die Verhältnisse in Reverie waren. Dort hatte niemand Narben, nicht einmal Kratzer. Aber sie konnte nicht glauben, was sie da sagte. Tröstete sie etwa
Soren
?
Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schluckte. »Nicht schlimm? Seit wann bist du so witzig, Aria?«
»Seit Kurzem, glaube ich. In der Außenwelt haben alle Narben. Du solltest mal diesen Reef sehen. Er hat eine tiefe Narbe quer über der Wange. Sieht aus wie ein Reißverschluss in der Haut. Dagegen ist deine … Ich meine, man sieht sie kaum.«
Soren kniff die Augen zusammen. »Woher hat er sie?«
»Reef? Er ist ein Witterer. Das sind Außenseiter, die … Ist ja auch egal. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass jemand versucht hat, ihm die Nase abzuschneiden.«
Ihre Stimme hob sich am Ende des Satzes, sodass ihre Worte eher wie eine Frage klangen. Aria versuchte, sich unbeeindruckt zu geben, aber die Härte der Außenwelt wurde an einem so eleganten Ort wie diesem noch deutlicher. Sie trat einen Schritt näher und
Weitere Kostenlose Bücher