Getrieben - Durch ewige Nacht
betrachtete seine Narbe genauer. »Kannst du deinen Vater nicht bitten, sie in den Welten unsichtbar zu machen? Das wäre doch nur eine Frage der Programmierung.«
»Das kann ich selbst, Aria. Hier drin brauche ich meinen Vater nicht!«, erwiderte er mit fast sich überschlagender Stimme. Dann zuckte er die Schultern. »Was soll’s. Ich kann mich sowieso nicht verstecken. Alle wissen, wie ich aussehe, und das werden sie auch nicht wieder vergessen.«
Soren war ganz und gar nicht mehr wie früher, erkannte Aria plötzlich. Seine gewöhnlich so selbstgefällige Art wirkte gezwungen, fast verkrampft. Sie erinnerte sich, dass Bane und Echo – seine engsten Freunde – in derselben Nacht wie Paisley in Ag 6 ums Leben gekommen waren.
»Ich darf mit niemandem darüber sprechen, was in dieser Nacht passiert ist«, räumte er ein. »Mein Vater sagt, es würde die Sicherheit der Biosphäre gefährden.« Er schüttelte den Kopf, und ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Er gibt mir die Schuld an allem. Er versteht es einfach nicht.« Soren blickte auf seine Hand, die noch immer den Sitz neben ihm umklammerte. »Aber du verstehst es. Du weißt, dass ich dich nicht absichtlich verletzt habe … oder?«
Aria verschränkte die Arme vor der Brust. So gern sie ihm auch Vorwürfe gemacht hätte, sie konnte es nicht. Aus den Forschungsunterlagen ihrer Mutter hatte sie von der Krankheit erfahren. Nach Jahrhunderten in den Welten und der Sicherheit der Biosphären hatten manche Menschen die Fähigkeit verloren, mit wirklichen Schmerzen und Stress zurechtzukommen. In Ag 6 hatte Soren sich so verhalten, weil er unter DLS litt. Dafür hatte sie Verständnis – aber sie konnte ihn auch nicht so davonkommen lassen.
»Das sollte wohl so was wie eine Entschuldigung sein«, meinte sie.
Soren nickte. »Vielleicht«, schniefte er. »Ja, es war eine Entschuldigung.«
»Akzeptiert. Aber fass mich
nie wieder
an, verstanden?«
Er hob den Kopf und schaute sie erleichtert an. Er wirkte fast schutzlos. »Okay.« Dann richtete er sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die Verwundbarkeit, die Aria einen Moment lang an ihm entdeckt hatte, wich einem süffisanten Grinsen. »Hast du gewusst, dass nicht alle DLS haben? Aber ich gehöre zu der Gruppe der Verrückten. Dumm gelaufen, was? Aber macht nichts, ich kriege die richtigen Medikamente. In ein paar Wochen bin ich bereit.«
»Welche
Medikamente
? Und wozu bist du bereit?«
»Neue Präparate, damit ich nicht wieder ausflippe. Und Impfungen gegen Krankheiten der Außenwelt. Die verpassen sie auch den Wärtern, die draußen Reparaturarbeiten ausführen, für den Fall, dass ihre Schutzanzüge reißen. Sobald ich immunisiert bin, verschwinde ich. Ich habe hier nichts mehr verloren.«
Aria schaute ihn überrascht an. »Du willst Reverie verlassen? Soren, du hast keine Ahnung, welche Gefahren da draußen lauern. Das ist was völlig anderes als ein Ausflug in eine Safari-Welt.«
»Reverie ist
am Ende
, Aria. Früher oder später kommen wir alle raus.«
»Wovon redest du? Was geht in Reverie vor?«
»Versprich mir, dass du mir in der Außenwelt hilfst, dann sage ich es dir.«
Aria schüttelte den Kopf. »Ich werde dir nicht helfen …«
»Ich könnte dir Caleb und Rune zeigen. Sogar den Barbarenbengel, nach dem du immer fragst.« Plötzlich richtete er sich auf. »Ich muss jetzt los. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»
Warte
. Was ist mit Reverie los?«
Soren grinste und schob das Kinn nach vorn. »Komm wieder, wenn du es wissen willst«, sagte er und verschwand.
Aria starrte auf die Stelle, wo er gestanden hatte, und schaute dann in den leeren Zuschauerraum. Auf ihrem Smartscreen erschien ein Icon, direkt neben dem von Hess.
Die weiße Maske des Phantoms der Oper.
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Peregrine
| Kapitel Neunzehn
»Inzwischen ist bereits eine Woche vergangen«, bemerkte Reef. »Wirst du jemals darüber reden?«
Perry stützte die Ellbogen auf den Tisch. Der Rest des Stammes hatte sich schon vor Stunden entfernt, unmittelbar nach dem Abendessen. Nur sie beide saßen noch da. Das Zirpen der Grillen drang an seine Ohren, und Strahlen kühlen Ätherlichts fielen durch den dunklen Raum.
Perry bewegte seinen Finger über die Kerze, die zwischen ihnen stand, und spielte mit der Flamme. Wenn er die Fingerkuppe zu langsam bewegte, tat es weh. Der Trick bestand darin, schnell zu handeln und nicht innezuhalten.
»Nein, werde ich nicht«, erwiderte er, den Blick auf die
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