Getrieben - Durch ewige Nacht
beiläufig. Irgendwie hatte sie das Gefühl, Sable wusste bereits, dass Perry einen Teil seines Stammes verloren hatte. Die Frage schien eher ein Test als höfliche Konversation zu sein.
»Er macht sich«, erwiderte Roar knapp.
Sables Lachen in der Dunkelheit hörte sich sanft und gewinnend an. »Sorgfältig gewählte Worte.« Dann blieb er vor einer schweren Holztür stehen. »Da sind wir.«
Sie traten auf einen großen, gepflasterten Hof hinaus, über den die lauten Jubelrufe einer großen Menschenmenge schallten. Um Aria herum erhob sich die Burg – das war das beste Wort, das sie für Sables weitläufige Festung finden konnte – und ragte bestimmt hundert Meter in die Höhe, in der chaotischen Anordnung von Balkonen und Brückengängen, die sie bereits von Weitem gesehen hatte. Die nackte, graue Felswand des Berges reichte noch höher hinauf und teilte sich den Himmel mit dem aufgewühlten Netz des Äthers.
Aria folgte Sable in Richtung der Menge, die sich in der Mitte des Hofes versammelt hatte. Ihr Puls raste, und sie konnte spüren, dass Roar dicht neben ihr ging. Über die Anfeuerungsrufe hinweg hörte sie das Klirren von Stahl. Als die Zuschauer Sable erblickten, teilte sich die Menge, um ihn durchzulassen. Weiter vorn entdeckte Aria blondes Haar, das kurz aufleuchtete.
Und dann sah sie sie.
Liv schwang ein Halbschwert gegen einen Soldaten ihrer Größe – fast ein Meter achtzig. Ihr Haar war mit dunklen und hellblonden Strähnen durchsetzt und reichte ihr bis zur Taille. Sie hatte weit auseinanderstehende Augen, einen kräftigen Kiefer und hohe Wangenknochen. Gekleidet war sie in Lederstiefel, eine enge Hose und ein ärmelloses Hemd, das ihre schlanken, wohlgeformten Muskeln sehen ließ.
Sie war stark. Ihr Gesicht, ihr Körper, alles an ihr.
Ihr Kampfstil war energisch. Sie kämpfte, ohne zu zögern, als würde sie mit jeder Bewegung ins Meer springen.
Die beiden ähneln einander sehr
, hatte Roar einmal über Perry und Liv gesagt. Aria musste ihm recht geben.
Liv machte den Eindruck, als würde sie sich in ihrer Haut wohlfühlen und als hätte sie alles unter Kontrolle – so gar nicht wie die Gefangene, die Roar sich vorgestellt hatte. Aria warf ihm einen kurzen Blick zu und bemerkte sein aschfahles Gesicht. Sie hatte ihn noch nie so erschüttert gesehen und spürte sofort den Impuls, ihn zu beschützen.
Währenddessen duckte sich Liv, um einem hohen, schneidenden Hieb ihres Gegners auszuweichen, aber der streckte den Unterarm aus und erwischte sie mit der flachen Klinge im Gesicht. Ihr Kopf schnellte zur Seite. Aber schon im nächsten Moment hatte sie sich wieder gefangen, setzte nach, wo fast jeder andere in Deckung gegangen wäre, und verblüffte den Mann mit einem Schlag in die Magengrube. Als er sich zusammenkrümmte, rammte sie ihm unerbittlich einen Ellbogen gegen den Hinterkopf, sodass er auf die Knie sank. Und dort blieb er auch, hustend und keuchend von der Wucht ihrer Schläge.
Lächelnd stupste sie seine Schulter mit dem Fuß. »Komm schon, Loran. Steh auf. Das kann doch nicht alles gewesen sein.«
»Ich kann nicht mehr. Du hast mir eine Rippe gebrochen. Da bin ich mir sicher.« Der Soldat hob den Kopf und schaute in Sables Richtung. »Sprich du mit ihr, Sable. Sie kennt keine Gnade. So kann man nicht trainieren.«
Sable lachte – der gleiche sanfte und verführerische Klang, den Aria in den Korridoren gehört hatte. »Falsch, Loran. Nur so kann man trainieren.«
Liv drehte sich um, und als sie Sable sah, wurde ihr Lächeln für einen Moment breiter. Bis sie Roar sah. Mehrere Sekunden verstrichen, in denen sie sich weder bewegte noch den Blick abwandte. Dann hob sie, ohne zu blinzeln, den Arm und schob das Schwert in die Scheide auf ihrem Rücken.
Als Liv auf sie zukam, konnte Aria das Mädchen, von dem sie monatelang gehört hatte, nur stumm anstarren. Das Mädchen, dem ihr bester Freund sein Herz geschenkt hatte und in deren Adern das gleiche Blut floss wie in Perrys.
»Was machst du hier?«, fragte sie. Der Hieb, den sie abbekommen hatte, zeichnete sich als roter Striemen quer über ihrer Wange ab, aber aus dem Rest ihres Gesichts war sämtliche Farbe gewichen. Sie wirkte genauso blass wie Roar.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.« Roars Worte waren kalt, aber seine Stimme klang heiser vor Aufregung, und die Adern an seinem Hals traten deutlich hervor. Er konnte sich kaum noch zurückhalten.
Nachdenklich schaute Sable von einem zum anderen und lächelte dann.
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