Gevatter Tod
Exemplar, in dem einige der gefährlichsten Seiten mit Klemmen zusammengesteckt waren. (In besonders stillen Nächten konnte der junge Zauberer trotzdem das leise und wütende Kratzen der eingekerkerten Worte hören, wie von einer Spinne, die in einer Streichholzschachtel gefangen ist. Wer schon einmal dicht neben jemandem gesessen hat, der einen Walkman trug, weiß sicher, welche Art von Geräusch der Autor meint.)
»Das ist genau die richtige Stelle«, verkündete Schneidgut. »Hier heißt es, selbst die Götter…«
»Ich habe ihn schon einmal gesehen!«
»Wen?«
Mort zeigte mit einem zitternden Finger auf das Buch.
»Ihn!«
Schneidgut bedachte Tods Lehrling mit einem skeptischen Blick und betrachtete dann die linke Seite. Das Bild dort zeigte einen älteren Zauberer, der ein Buch samt Kerze hielt und den Eindruck erweckte, an unheilbarer Würde zu leiden.
»Das gehört nicht zur Magie«, sagte Schneidgut. »Es ist nur der Autor.«
»Was steht unter dem Bild?«
»Äh… ›Wänn dem Lehser dises Buhch gefallen hatt, so intreßiert er sich fiellaicht für ahndere Tittel fom glaichen…‹«
»Nein, ich meine den Namen direkt unter der Abbildung!«
»Oh. ›Alberto Malich.‹ Jeder Zauberer kennt ihn. schließlich hat er die Unsichtbare Universität gegründet.« Schneidgut lachte leise. »Im Hauptsaal gibt es eine berühmte Statue von ihm. Während eines Fests bin ich einmal an ihr hochgeklettert und habe…« Er brach ab und gluckste.
Mort starrte wie gebannt auf das Bild.
»Sag mir…«, flüsterte er. »Hat die Statue einen Tropfen an der Nasenspitze?«
»Ich glaube nicht«, sagte Schneidgut. »Immerhin besteht sie aus Marmor. Ich begreife überhaupt nicht, warum du so aufgeregt bist. Viele Leute wissen, wie Alberto Malich ausgesehen hat. Er war berühmt und ist es noch heute.«
»Er lebte vor langer Zeit, nicht wahr?«
»Vor ungefähr zweitausend Jahren. Hör mal, ich weiß nicht, warum du…«
»Aber ich wette, er starb nicht«, sagte Mort. »Bestimmt verschwand er einfach, na?«
Schneidgut überlegte einige Sekunden lang.
»Komisch, daß du das erwähnst«, erwiderte er langsam. »Ich hörte einmal eine Legende, und darin heißt es, Malich habe sich auf einige höchst eigentümliche Dinge eingelassen. Angeblich hat er sich selbst in die Kerkerdimensionen geschleudert, während er versuchte, den Ritus von AshkEnte rückwärts zu vollziehen. Man fand nur seinen Hut. Tragische Sache. Die ganze Stadt trauerte einen Tag lang, und viele Leute erwiesen einem Hut die letzte Ehre. Es war nicht einmal ein besonders hübscher Hut – er hatte Brandflecken.«
»Alberto Malich«, murmelte Mort mehr zu sich selbst. »Höchst interessant.«
Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, und das Pochen klang seltsam gedämpft.
»Tut mir leid«, sagte Schneidgut. »Den Umgang mit Sirupbrötchen muß ich erst noch lernen.«
»Soweit ich das feststellen konnte, bewegte sich die Grenzfläche mit der Geschwindigkeit eines Spaziergängers.« Mort leckte sich geistesabwesend die Finger ab. »Kannst du sie nicht mit Magie aufhalten?«
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Nein, ich nicht«, erwiderte er und fügte fröhlich hinzu: »Sie würde mich plattquetschen.«
»Und was passiert, wenn sie das Schloß erreicht?«
»Oh, dann wohne ich wieder in der Mauergasse. Ich meine, in dem Fall habe ich mein Haus nie verlassen. Wenn sich die Kuppel um uns schließt, ist dies alles nie geschehen. Eigentlich schade. Das Essen im Palast ist sehr gut, und außerdem wäscht man meine Sachen. Gratis. Da wir gerade dabei sind: Wie weit ist die andere Realität entfernt?«
»Etwa zwanzig Meilen, schätze ich.«
Schneidgut rollte mit den Augen, starrte kurz zur Decke hoch und bewegte lautlos die Lippen. »Das bedeutet, sie trifft morgen gegen Mitternacht hier ein. Genau rechtzeitig zur Krönung.«
»Wessen Krönung?«
»Kelis Krönung.«
»Aber sie ist doch schon Königin, oder?« fragte Mort.
»In gewisser Weise. Offiziell wird's erst, wenn man ihr die Krone aufs Haupt setzt.« Schneidgut lächelte. Im flackernden Kerzenschein bildete sein Gesicht ein diffuses Schattenmuster. »Wenn ich es dir mit einem Vergleich erläutern darf: Es ist wie der Unterschied zwischen dem Ende des Lebens und dem Beginn des Todes.«
Vor zwanzig Minuten war Mort müde genug gewesen, um einfach irgendwo Wurzeln zu schlagen, doch jetzt spürte er, wie ihm das Blut in den Adern zu kochen begann. Es handelte sich um die typische nervöse
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