Gewäsch und Gewimmel - Roman
»richtigmenschlich und persönlich«, mitten im Gespräch ein anonymer Organismus wird und nichts weiter.
Hatte er in seinen Romanen eigentlich je das Wort »Hoffart« oder wenigstens »hoffärtig« eingesetzt? Er wußte es nicht mehr.
Morgen wollte er sein vielleicht schon nächstes literarisches Projekt durch Würfeln entscheiden: Ein Maler ist von einem mächtigen Lebensmitteldiscounter beauftragt, in ganz Europa die Reste der Zisterzienserklöster aufzusuchen und zehn von ihnen zu malen. Meist handelt es sich um Ruinen in schönen Landschaften. Reisen und Arbeit erstrecken sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Zum religiösen Aspekt hat der Maler, ein angelernter kulinarischer Feinschmecker, wie er stets und ungefragt betont, keine Beziehung. Erworbene exquisite Spleens sind bei ihm, wie üblich, Substitut für Metaphysik. Allerdings macht er sich schrittweise mit der Geschichte des Ordens vertraut, wird regelrecht Spezialist für dessen weltliche und theologische Entwicklung. Seine Freunde bemerken allmählich mit Erstaunen eine schleichende Veränderung, wenn er ihnen wieder ein neues Bild vorführt.
Etwas biß Pratz beharrlich zwischen den Schulterblättern.
Das aber wollte er, der irgendwann ohne Reue vom elitären Stammler zum Plothuber geworden war, morgen per Würfel festlegen: Soll der Maler bei seinem Werk nun immer agnostischer oder immer frömmer werden? Oder wäre es nicht besser, für immer Schluß zu machen mit all den unerbetenen literarischen Ausdünstungen und Spiegelfechtereien, haarsträubend bei ihm wie beim gesamten Schreiber- und Künstlerpack?
Wirklich komplett unerbeten? Nun ja, immerhin fiel ihm auf, daß doch allerhand Leute, sehr und wenig gebildete Freunde darunter, ihre augenblickliche Lektüre mit Eifer, ja Stolz erwähnten, vielleicht, um sich bei den großen Werken der Literatur selber Hall, Räumlichkeit und Aroma zu borgen. Dieser ehrenwerte Usus schien zum Glück nicht ausgestorben zu sein, ganz und gar nicht.
Liebte er seine literarischen Favoriten nicht einmal, vor tausend Jahren, so heiß, daß er sich schon im voraus auf das Nachwort irgendeines Herausgeber freute, von dessen lahmen Einsichten sich das eigene Erkennen jedes Mal geradezu schaumgeboren abhöbe?
Und wie stand es mit ihm und »da oben«? Hatte er, Pratz, nicht ein kleines Guthaben über den Wolken, nämlich zwei-, dreimal gegen die eigenen Interessen Schriftsteller gefördert? Ja, aber man würde, wenn das Ganze Sinn und Verstand haben sollte, oberhalb von Kumuli und Stratozirren unbestechlich sein. Er hatte, aus reinen Experimentiergründen, doch bloß ausprobiert, wie es sich verhält mit der Selbstlosigkeit und seine Neugier befriedigen, vor allem notieren wollen. »Gott erledigt sich von selbst in der eigenen Klemme. Bevor ich glaube, er könnte sich für den Elendsdreck, der wir Menschen sind, interessieren, sich gar mit ihm affäremäßig verquicken, lasse ich den derart Ungöttlichen lieber aus dem Spiel und damit eine unnötige Demütigung des Verstandes«, sagte er einfach mal so vor sich hin. Aber ganz im Ernst: Hoffte man immer so ausreißerisch auf die Zukunft, weil man die pure Gegenwart nicht aushielt, oder ertrug man die reine Gegenwart nur deshalb nicht, weil man dahinter ein provozierendes Versprechen, jedenfalls etwas Versprochenes ahnte?
Gut ging es ihm nicht.
Er versuchte – ein Spiel von früher – sich die Anwesenden als Tote und Sterbende vorzustellen, er wollte – ein versehentlicher, unverzeihlicher, nicht wiedergutzumachender Gedanke – den Spieß umdrehen.
Es gab offenbar kleine Kinder von Gästen im Haus. Er hörte sie bei einem Spiel: »Acht, neun, zehn!« Stimmen, schauerlich wie die Dämmerung nach den eisigen Feuern des Oktobermittags. Unbarmherzig zählten sie, während die ganze Welt, nur für Pratz vernehmbar, stöhnte.
Hätte bloß heute Morgen nicht ein gewisser Jemand den blödsinnigen Kinderschreck-Satz gesagt! Fiele er ihm doch nicht dauernd ein!
Da tauchte, wie um ihn abzulenken, der Kollege aus dem Hotel im Engadin vor ihm auf, Name nicht gewußt im Moment. Schon war Pratz wieder obenauf: Dieser Kerl, einer von denen, die mit Hut und Dauersonnenbrille darum kämpfen, die alte Kenntlichkeit zu behalten, während das Altern sie ihnen wegnehmen will. Ein intellektueller Musterschüler, der, kaum hatte ein Ereignis von Belang stattgefunden, mit dem öffentlichen Analysieren anfing, noch bevor das Geschehen überhaupt Duft oder Gestank hatte
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