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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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gesamten Hang zwischen ihrem Haus und dem Fluß kahlschlagen zu lassen, ob aufgrund von Bestechung oder der Bereitschaft, eine hohe Geldbuße zu entrichten, wußte Pratz nicht. Es machte für ihn keinen wesentlichen Unterschied. Ihre Neigung zur matronenhaften Rundlichkeit hatte sie erfolgreich durch Joggen bekämpft. Es ging ihr gut, die Kinder waren nicht da, man brauchte ihn nicht.
    Er störte. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie eigentlich in sogenannter offener Ehe, regelrecht getrennt lebten oder sogar geschieden waren. Sollte er seiner Frau noch einmal probeweise die Cour machen? Ach was, er war hier nicht mehr als irgendein Etcetera.
    Der schwarze Mann in seiner stummen Grandezza gefiel ihm noch am besten. Ob er, überlegte der Schriftsteller und spielte sich ein letztes Quentchen Eifersucht vor, derjenige ist, der die Dame des Hauses aktuell bevögelt? Pratz setzte sich, ebenfalls schweigend, in die andere Sofaecke und versuchte, sich zum Zeitvertreib so weit wie möglich zurückzuerinnern.
    Er war etwas mehr als zwei Jahre alt gewesen, als er einen brennenden Kirchturm gesehen hatte, auch, wie er umkippte. Weiter ging es nicht in die Vergangenheit. Dieser letzte Moment des Turms war der erste in der Erinnerung des Schriftstellers, davor existierte nichts. Gab es nicht ein Keller-Gedicht von den zwei glühenden Pünktchen vor der Finsternis des Todes und bei einem erblindeten Kapitän in einer Conrad-Geschichte wieder diese Pünktchen, verglimmende Sterne als das letzte Sichtbare im dunklen Weltall? Oder schwebten sie ganz kurz vor dem dannberstenden Großlicht des eigentlichen, des Nach-Lebens? Kleinbürgerliche Kindheit, gute, manchmal verwegene Mutter. Irgendwann tiefblaue Tage an der niederländischen Küste aus eigener Kraft erwirtschaftet. Der üblicherweise so bedrückend symbolischen Wellenbewegung haftete nichts Wehmütiges an, kein Aufruf zur philosophischen Lebensbetrachtung. Fort damit! Mit jeder blendenden Brandungswoge und ihrem schürfenden Zurückweichen stürmte heran und sog ihn davon: ein Schmerz, der sehr der Sehnsucht ähnelte. Es wäre ihm zu kleinlaut gewesen, es anders als die nach dem Unendlichen zu nennen. Dann die Ostsee unter Oktoberlicht, in regelmäßigen Abständen in der Nähe des Ufers, von der Steilküste noch beschattet, ein Aufstrahlen wilder Schwäne. Sie gründelten in Gruppen zwischen schwarzen Ursteinen im zuckenden Meer. Das schwärmerische, rosige Graulicht des Oktobers, bevor gegen Abend das Nagen und Schlürfen der aufkommenden Düsternis einsetzte. Keinerlei Zerstörungen durch die Symptome des Freizeitlichen. Es war die Zeit, wo die Natur begann, sich durch die wechselnde Beleuchtung anders zu deuten. Es war die Zeit, in der er beinahe wie früher, mit fünfzehn, das Gefühl hatte, von den Sonnenuntergängen, den Horizonten und hohen Juniwiesen betastet und geprüft zu werden für etwas Unbekanntes und, noch nicht von der eigenen Biographie verworfen, glaubte, solche Landschaften würden bruchlos ohne Todesabsturz irgendwann in die Ewigkeit übergehen. Es waren fast noch einmal die ungeheuerlichen Empfindungsüberflutungen der Kindheit, das ungeheure Herzklopfen in den Herbstdämmerungen, während seine Hand in der Hosentasche ein kleines Messer mit einem Kaugummiballen an der Schneide berührte oder ein feuchtes Streichhölzchen und den Rest einer räudigen Vogelfeder. Kurz darauf, landschaftlich gesehen, ein verfrühtes, aber elegantes Greisentum: graue Novemberseide, eine Welt des Indirekten, zurückgeworfen von stumpf spiegelndem Aluminium, die schöne, ansteckende Schwäche.
    »Wie der Wind im Hafer surrt«. Gar nicht schlecht gesagt vom alten Dehmel, durchaus nicht schlecht gesagt. Bei den Kollegen von der Fraktion Naturlyrik kam es zu oft vor, daß sich die Damen und Herren (die ihre Nase gegenüber schnöden Prosaisten, wie er einer war, womöglich hoch trugen) nur erleichtern wollten und zu selten, daß sie unter Anleitung der Natur statt dessen etwas herstellten. Das aber schafft nicht nur Goethe, sondern auch Freund Mörike im »Rheinfall« mit einer einzigen letzten Zeile: »Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb!« Pratz hatte es nicht in Schaffhausen, sondern an einem etwas gewaltigeren Wasserfall erlebt, an den weiß dampfenden Gewittern der Niagarafälle: Die Wüstheit der Elemente erhob das Herz keineswegs zwangsläufig zum höchsten Jemand empor, wie immer gelogen wurde. Es ließ einen schwerst daran zweifeln, daß

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