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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Musik, lallte es im Hirn des Schriftstellers, scheint in manchen ihrer Stücke unser Leben darzustellen, den Menschen, sein Geschick. Das habe ich jedenfalls irgendwann behauptet. Dabei läuft es doch nur auf eine Beschämung hinaus. Unsere Existenz ist, im Kontrast zur Musik, gekrümmt, erbärmlich, ohne Melodie. Und doch: Ein Gott nimmt uns für Augenblicke an die Hand … in der Eile lebenswichtige Distanzen zurück, gehetzter von Tag zu Tag, ein allerletztes Rätsel vielleicht – der Schwarze packt mich durch seine bloße Stimme, durch sein Krächzen und Quäken, als fragte doch noch jemand nach mir, am Kragen, jaja, lebenswichtige Distanzen zurück. Ach, käme doch meine uralte Mutter und verspräche lächelnd wie früher: »Kind, so schnell stirbt man nicht!« Seine uralte Mutter, die er beim letzten Besuchgebeten hatte, sie solle mit ihrer lieben Stimme noch einmal seinen Namen sagen, denn er wollte sich die ergreifende Szene für eine kleine Novelle merken, und sie hatte gut verständlich gefragt: »Isidor?« »Stanislaus?« Seine kleine alte Mutter, in deren Nachlaß man auf einem Packen schneeweißer Leinenbettwäsche ein Briefchen an seine Frau gefunden hatte, auf dem sie darum bat, die Wäsche nicht wegzuwerfen, da sie doch wieder Mode werden könne. Frau Pratz hatte daraufhin die Tücher irgendwo verstaut, Pratz selbst aber den Zettel aus dem Papierkorb geholt und in seiner Brieftasche aufgehoben, nahe seinem reumütigen Herzen. Plötzlich wurde ihm die brennende Schönheit des Gefühls »Reue« klar, nein, nicht brennend, eher bräunlich glühend. Was war die Liebe zur uralten Mutter gegenüber der Kraft schmerzlich zuckender Reue angesichts ihrer Leinenwäsche mit den zärtlichen Stopfstellen darin?
    Ach, wäre doch schon die Ewigkeit und nichts, kein Sterben, zwischen ihm und ihr! Er hätte jetzt gern in alle vier Himmelrichtungen versuchsweise »Gott?« geschrien. Er kriegte das Wort in Gesellschaft aber nicht raus. Als junger Mensch hatte er das Wort manchmal in achtzehnjähriger ratloser »Hoffart« vor sich hingesagt, aber nicht gewußt, was er sich denn dabei denken sollte, nachdem die vier Buchstaben rausposaunt waren. Ihm fiel als Stoff kein weiteres Partikelchen dazu ein. Mit der Ewigkeit allerdings war vielleicht auch nichts. Elsas Pastor Dillburg, der Mann auf dem Gummiball, ach Quatsch, der fromme Barockpastor Rist, hatte sich in einem Gedicht vor dem »Toben« der unaufhörlichen Ewigkeit schrecklich gefürchtet, hatte sich ja angesichts ihrer unmenschlichen Dauer gar nicht beruhigen können!
    Was hörte er da wieder? Kreischend-wimmernde Laute von Zugvögeln, die, wie er erst jetzt bemerkte, schon den ganzen Tag über den Hintergrund gebildet hatten? Jedes entfernte Geräusch nahm die Mimikry ihrer Schreie an. Lindenduft beugte sich, alswäre es seine Mutter, über ihn. »Seine Mutter beugt sich in Gestalt des Lindendufts über ihn«, flüsterte er.
    In der Nähe sagte jemand: »Morgen vormittag, 10.30 Uhr, top!« Woher holte der Idiot die Gewißheit, diesen Zeitpunkt lebend erreichen zu können? Keiner von denen hier wollte starr sein vor Entsetzen oder zittern wie Espenlaub vor dem Luftzug der davonrasenden Zeit. »Einsamer nie« vor dem eisernen Dumme-August-Gesicht des Todes. Fast hätte er, hoffentlich zitatgenau, geschluchzt: »Wenn er mich wegfretzet, werd’ ich dann wohl versetzet?«
    Nie wieder eine Elster, eine Taube, die sich unbesorgt in schneller Zerstückelung durch kahles Februargeäst bewegt und sich dann aufglänzend davonschwingt als Vollgestalt?
    Seine Kinder nicht, seine Liebschaften nicht, seine Bücher waren die Stationen seines Lebens. Er wollte sie sich noch einmal aufzählen, alle vierzehn Romane, wie andere die Achttausender: »Schefs Sache«, »Die verborgene Republik«, »Das Tödlein«. Weiter kam er momentan nicht und fand es selbst geschmacklos.
    Hatte ihn nicht mit circa vierzig Jahren nach erfolgreicher Lesung ein abgerissener, Pratz vage bekannter Kerl in der Signierschlange sehr erschreckt, als er sich, ohne Buch in der Hand, mit dem Namen eines noch vor zwanzig Jahren äußerst berühmten und entsprechend hofierten Schriftstellers vorstellte, von dem er, Pratz, gar nicht bemerkt hatte, wie vergessen er war? Aber, ging ihm schon damals durch den Kopf, warum nicht einmal, dem endgültigen Ruin so ohne Widerspruch ausgeliefert, verschwinden?
    Nun wurden endlich – er dachte es mit trägem Entsetzen – die kleinen, lange zurückgestauten Nachrufexzesse

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