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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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seines Zwillingsbruders gelitten. Viel mehr als die Frau meines verunglückten Sohnes. Die hat sich mit den Kindern schnell anderswohin gewandt. Ich sehe sie nie, auch die Enkel nicht.«
    Jetzt ist Dillburg wieder aufgewacht aus seiner Geistesabwesenheit.
    »Mein Sohn in München hat eine wunderschöne Freundin, hat oder vielmehr wohl: hatte. Ich besitze ein Foto von ihr. Eine richtige Magdalena, liebreizend, aber leider, ach Herr Dillburg, leider zu allen Männern liebreizend.«
    Da entfährt ihm: »Sicher goldrotes Haar?«
    »Wie bitte? Herr Dillburg?« Frau Fendel öffnet den Mund und läßt ihn ein Weilchen ungeschlossen. Er könnte sich einbilden, sie rückte sogar ein bißchen von ihm weg.
    »Keine Angst, mir ist nur ein Gemälde in Erinnerung gekommen, nein, gleich mehrere sind es. Immer geben die Künstler Maria Magdalena, der sogenannten ›Sünderin‹, Haare in diesem herrlichen Farbton als Charaktersignal.«
    Frau Fendel sagt streng: »Herr Dillburg, Sie wissen diese Dinge besser als ich, aber das, was ich unter Gott verstehe, kann ich nicht mit diesen Anekdoten in Zusammenhang bringen. Verübeln Sie es mir nicht.«
    Dillberg ist gerührt, als er in ihrem zarten Gesicht nach dem feuchten Jammer von eben jetzt den geradezu hochmütigen Zug wahrnimmt. Er überlegt, ob er ihr einen Lieblingsgedanken verraten soll. Was wird sie davon verstehen wollen?
    »Manchmal glaube ich«, beginnt er vorsichtig, »daß wir selbst und mit uns alles, was sich unterhalb der Unendlichkeit befindet, Anekdoten sind, Anekdoten um einen göttlichen Funken herum. Wir kristallisieren uns um ihn herum in Geschichten und Episoden, versuchen Sie bitte einmal, die Überlegung nachzuvollziehen. Frau Fendel, liebe Freundin, auch wenn das Episodische oft diesen Splitter des Ewigen völlig zuwuchert. Ganz zerstören läßt er sich nicht. Er ist es, der die Lebensszenen letzten Endes bemerkenswert macht, und wir, wir müssen entdecken, daß sie von ihm zeugen.«
    Er hört selbst das Bittende in seiner Stimme. Bittet er seine Zuhörerin, ihn zu begreifen, oder eine unfaßbare Wirklichkeit, er möge recht haben?
    »Wann zieht ihre Schwester hierher?« fragt Frau Fendel.
    Dillburg fährt zusammen. Hat er ihr nun doch zu viel Weihrauch zugemutet?
    Dabei würde er so gern über die Weisheit sprechen, die er in den isoliert für sich stehenden Szenen zu erkennen glaubt. Vielleicht sind sie so vereinzelt und unerschöpfbar erst durch die Malerei geworden, wie es dann sicher in einem Plan von langer Hand vorausbestimmt war. Eine Malerei, die an der Schrift weitergearbeitet und der Frömmigkeit sehr geholfen hat. Aber sie hat die Religion auch simplifiziert und das Unendliche eingesperrt.
    Liebe Frau Fendel, möchte er fragen, haben Sie einmal beobachtet, wie wir in den Dingen und Personen etwas Größeres lieben und fürchten, nämlich die Legenden, das Ältere, das Allgemeine? Wir brennen und zittern vor etwas Dämonischem. Wir glauben das Wirkliche in den Oberflächen zu sehen, aber spüren eine Macht dahinter, vor der das Menschliche hinfällig wird. Daher oft die Enttäuschungen in der Gegenwart ersehnter Landschaften und Menschen. Viele merken übrigens gar nicht, daß sie nicht Gott, sondern die Bilder von ihm ablehnen.
    Früher, als Kind, glaubte er, die so oft gemalten Kreuzwegstationen seien schon immer dagewesen, und die Hauptfigur habe sie wie vierzehn vorgeschriebene Etappen leidend absolviert, so wie er, der noch kindliche Clemens, sich leidenschaftlich in die Stationen während der Karwoche vertieft hatte. Ja, so stellte er sich das Leben des Gekreuzigten vor: Der Strom seines Daseins staute sich in sprechenden, gewissermaßen gerahmten Szenen, kehrte in sie ein, hielt in ihnen still, als müsse das Bild ausreifen, und bewegte sich dann auf die nächste Szene zu.
    Wir benötigen, wollte er sagen, für die Unendlichkeit ein Bild. So sei Gott auf den Weihnachtsdarstellungen, etwa bei Matthias Grünewald, eingemündet in ein Kind.
    Er hätte Frau Fendel gern von der möglichen Erkenntnis in den Bildtrichtern erzählt und wie sich hier die Verbindung von Poesie und Gott erweise und nicht der hybride Glaube an eine Erkenntnis über ihn. Je größer aber das erkundete und vermutete Weltall und das Universum der Mikrostrukturen sei, desto zwingender auch die Notwendigkeit der alten Gemälde, der Liturgie und der geheiligten Räume. Mit Demut, selbstverständlich, habe das allerdings zu tun. Die aber sei ja nicht von vornherein die dümmste

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