Gewäsch und Gewimmel - Roman
daß die Politik die Wirtschaft nicht mehr steuern kann, aber muß man gleich von einer globalen Verflechtung legaler und illegaler Märkte, von Wirtschaft als organisierter Kriminalität reden? Im Fall der Sonne käme sie, Frau Fendel, als Augenzeugin zur Bestätigung der Zeitungsmeldung in Frage. Aber bei derart geschlossener Wolkendecke wie heute? Sonne wie Mafia: alles Übertreibung, ja Lüge? Andererseits, sagt sie sich, nimm nur mal Hitler und den dicken Duce! Was für stumpfsinnige Gesichter! Was für ein abgrundhäßlicher Augenschein! Und doch hat das Offensichtliche nichts genutzt.
Rätsel
Wo sind eigentlich Spatzen, Gänseblümchen und Huflattich, wo ist es hin, das liebe Naturprekariat?
Clemens Dillburg und Judas Ischarioth
Dienstag. Der Ritus der Jahreszeiten, das Episodische, Anekdotische der Erde im Weltall: Sind es liturgische Bemühungen vor oder um Gott? Verhält sich die Liturgie zu ihm, wie sich die Sternbilder zum Universum verhalten? »Alle Täler haben sich mit Blau gefüllt!« Dillburg, der gute, heute fast zu erschöpfte Mann und Geistliche, sagt es nach einem aufreibenden Tag ein bißchen voreilig in den Abend hinein. Ist diese Zeile eigentlich wirklich so schön? Er weiß es nicht, vielleicht ist es nur die Glut der Jugend, die man einmal hineingegossen hat und die für keine neueren Verse mehr zur Verfügung steht? Jedoch, jedoch. Später und so auch heute kommt und schlägt der alte, eingefüllte Überschwang aus den Versen wieder auf ihn zurück.
»Mit siebzehn, achtzehn war alles auf mich zurechtgeschnitten, die ganze köstliche Zeit«, hat neulich seine Schwester geseufzt. Er erinnert sich an den schnellen Klang ihrer Absätze damals. Geheiratet hat sie nicht, keine Kinder, kinderlos wie alle drei Geschwister.
Oder sind es doch die Absätze eines anderen Mädchens, die er im Gedächtnis hat, das Lächeln einer Oberprimanerin, ein Jahr älter als er? Für eine kurze Zeit war sie ihm wie ein blasser, nicht allzu schmaler Sichelmond an einem noch hellen Märzhimmel erschienen, ein Abendhimmel, der immer mehr eindunkelt, damit der Mond sich zu seinem vollen Gold steigert, bis er unvermeidlich höher steigt, weißer und kälter wird und schließlich entschwindet. Er weiß noch immer ihren Namen, über den erstaunlicherweise niemand zu lachen wagte: Mariluna Stalljohann.
Ein Frühlingsabend also. Die Vorgärten sind noch ungläubig, aber schon unwillkürlich andächtig. Die schwerfällige Erde sagt:Nein! Die Schneeglöckchen und Krokusse, die sie nicht länger zurückhalten kann, rufen: Doch! Doch! Die Luft ist voll von kleinem Zwitscherkram. Spänchenzarte Äußerungen der Trauerweiden. In keinem Gesicht sieht Dillburg einen Widerspruch zu diesem Abend, dem einzigen im gesamten Jahr vielleicht, an dem die Blicke auf die Natur bei niemandem flüchtig sind.
Herr Dillburg ist auf dem Weg zu Frau Fendel. Trotz seiner Müdigkeit will er noch kurz bei ihr vorbeischauen. Seine Füße sind angeschwollen, er braucht neue Schuhe für das Sommerhalbjahr. Die Frau trägt schwer an ihrer Einsamkeit, da sind die ersten lauen Abende Gift. Von den besonderen Todesumständen seines Bruders in Wien, die ihm manche Schwierigkeit bereitet haben, erzählt er Frau Fendel selbstverständlich nichts. Auch hofft er immer noch, es könnte sich herausstellen, daß sein Zuhälterbruder eher aus Zufall umgebracht wurde. Allerdings spricht dessen massakriertes Gesicht dagegen.
Nein, Frau Fendel soll nichts davon hören, obschon Dillburg frivol genug ist, bei ihr eine Wonne am Klatsch vorauszusetzen. So kennt er schließlich die allermeisten Menschen, wenn sie schnalzen vor Bedauern. Was sie von seinen Betreuungsbesuchen erwartet, weiß er. Es ist der atmosphärische Anhauch des Sonntäglichen. Dillburg selbst kennt alle Anfechtungen im Glauben, er tastet sich in Zentimetern an Verzweiflung und Wüste vorbei. Gerade weil es so ist, hat er keine andere Wahl, als es mit immer neuem Entschluß zu versuchen. So (Dillburg, Gottes guter und getreuer Knecht, ist kurz verstört über den Einfall, aber leugnet ihn nicht) wie vielleicht gerade der entschiedenste Künstler seine Zweifel am eigenen Werk … belauert?
Frau Fendel mag den Geistlichen, weil er, und hier würde die alte Frau, sollte sie seine Gedanken wittern, sehr erröten, für ihre empfindliche Nase nach Weihrauch riecht.
Wenn sie ahnte, wie unbedingt er gut sein muß, um nicht ein sehr böser Mensch zu werden! Sobald er während der Messe dieölig-innige
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