Gewäsch und Gewimmel - Roman
Sache der Welt! Im Übrigen konzentriere man sich doch, in Betrachtung des Nachthimmels, auch auf die Sterne, um einen Eindruck zu bekommen, nicht auf die Dunkelheit dazwischen.
Er hätte ihr an diesem Abend so gern von seinem Schmerz erzählt, von seiner Sorge, die tiefen, tiefen Bilder könnten in Vergessenheit geraten. Niemand würde die Figuren, ihre Geschichten und die unvergleichlichen Konstellationen mehr kennen. Man könne in diese Bilder stürzen wie in bodenlose Abgründe und dann wieder, mit ein bißchen lichterem Kopf, daraus auftauchen.
Grundsätzlich ließen sich Botschaft und Werk des Nazareners, der ja nicht, was allzu primitiv wäre, zu verstehen sei als kostümierter Gott – vielleicht aber durfte man sich ein unaufhörlichesPulsieren zwischen dem Menschensohn und Gottvater vorstellen? –, begreifen als unermüdliche Umwandlung der durch und durch störrischen Welt, als Aufhellung ihrer kompakten Materie zu Gleichnissen und Bildern, Beseelung ihrer Stofflichkeit, ihrer Banalität hin zu Bedeutung. Oder müsse man sagen: Das Bedeutungsvolle wird, unter ihrer scheinbaren Trivialität, als Wirklichkeit und Wahrheit freigelegt? Am stärksten treffe ihn, Dillburg, jedesmal der Kuß des Judas Ischariot, diese unergründliche Konfrontation des göttlichen Gesichts mit den Lippen des Verrats. Sein halbes Leben lang habe er über diesen Augenblick und ihre Darstellungen gegrübelt, über diesen Zusammenprall der Mächte des Himmels und der Geschäfte der Finsternis. Ja, er wolle ihr jetzt gern erzählen, was ihn schon so lange und ungemindert bewege, begeistere und aufwühle an diesem besonderen Moment im nächtlichen Ölgarten. Der andere Verrat, der des Petrus, erzeuge dagegen kein Bild, nur die Formel des dreimaligen Leugnens und den Satz der Reuetränen.
Er hätte ihr sagen können, daß die gewaltigen überlieferten Bilder wie Berge aus der Erde drängen. Und wie die Berge der Erosion ausgeliefert sind, so sind es die Bilder der Zersetzungskraft der Vernunft. Aber die Berge stoßen wie die Bilder ständig von unten nach. Und daß allerdings und andererseits die Bilder den Glauben, Dillburg denkt es ganz leise, in einem Flüstern des Gehirns, nicht ersetzen können, und allein der stets neu erkämpfte Glaube, als Gebot viel schwerer zu halten als das der Liebe, immer wieder frisch in die alten Bilder, die er nun anders liest, einkehren kann und man vielleicht viele, viele zerstörerische Gedanken gehabt haben müsse, um zu den Bilder zurückzufinden.
Dillburg, nach einem langen Arbeitstag und mit noch stärker aufgequollenen Füßen in den engen Schuhen, sagt aber nur, nach einem Blick in ihr vernünftiges Frauengesicht: »Meine Schwester kommt in drei Wochen, Frau Fendel. Sie würden uns helfen, wenn Sie sich ihrer annehmen könnten.«
Dann geht er, schwankend vor Müdigkeit, in seinen Unglücksschuhen nach Haus.
Frau Fendel sieht ihm vom Fenster aus nach. »Ob er ahnt, der liebe, fast schon heilige Mann, daß es eine Pflanze gibt, die nicht nur ›Schwarznessel‹, sondern in meiner Heimatregion ›Gottvergess‹ heißt? Gut, daß bald seine Schwester auf ihn achtet, er hat heute zweimal statt ›Frau Fendel‹ ›Frau Fenchel‹ gesagt«, seufzt sie gegen die Scheibe. »Was wird aber aus meinem Sohn, wenn er ohne mich als Junggeselle in die Jahre kommt? Ein Mann, der sich tagelang nicht rasiert, nur einmal in der Woche die Zähne putzt und mit Löchern in Socken und Pullovern rumläuft! Wenn ein solcher Zustand erreicht ist, werden sogar promovierte Akademiker mit Einser-Examen entlassen.«
In mütterlicher Sorge schüttelt sie trockenen Auges den Kopf. Das Bild der zerrissenen Jacke auf ihrem Schoß verblaßt, hat sich schon verflüchtigt angesichts des Vordringlichen.
Der gute Mann Dillburg aber, der sehr gute Mann, der auf der ganzen Welt nur noch eine Schwester zur Familie hat, steht vor dem Zubettgehen am weit geöffneten Fenster und erinnert sich an ein berühmtes Mailied, in dem der Frühling dreifach herrlich hervorbricht: aus den Zweigen als Blüte, aus dem Gesträuch als Vogelstimme, aus der Brust als Wonne, und alles ist dreifach das gleiche, ja dasselbe.
Volle Gräben
Immer wieder staunt Frau Sykowa über die Freude, die ihrem Mann Jan durch den Anblick der ersten Mückentänze im Frühling, mehr noch aber durch den gut gefüllter Gräben zuteil wird, draußen in der Landschaft, wo ihnen manchmal, immer unerkannt, Frau Wäns mit ihrem Rucksack begegnet und eine Zigarette raucht.
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