Gewäsch und Gewimmel - Roman
›Gott ja, total zerdeppert. Was für eine bröselige Vergangenheit!‹ Was ich, und zwar hochzufrieden, gedacht habe, ehrlich gestanden, war: ›O mein Gott, die Zukunft der Zukunft!‹ Warum hochzufrieden? Was glaubt ihr? Weil ich die heutige Zukunft nicht leiden kann und die skurrilen Brocken immer noch besser sind als ein asphaltierter Planet.«
Herr Fritzle legte den Kopf schief: »Gut, da wir dabei sind, will auch ich mich beschweren: Seit einiger Zeit sprechen die Leute zu leise, schreiben die Preise zu klein, stehen so abrupt vor einem, daß man sie im ersten Moment gar nicht erkennt. Wasfür blöde Streiche!« Da lachten die beiden anderen schallend, schlugen, wie man’s so macht, mit der Faust auf den Tisch und mit der flachen Hand aufs Knie.
»Schön war es schon, als man noch oft in den Süden fuhr! Grelles Licht, altmodische Samstagnachmittagshitze, Verona, Livorno, Genua. Dazu Kaffeegeruch, Benzingeruch, träges Sitzen im teuren Schatten. Dann, gegen Abend lauter und lauter, das teuflische Klappern der Pfennigabsätze. O Mann, war das gut! Ist alles nicht mehr.« Wer hatte das gesagt?
»Wie auch immer«, rief der erste Freund dazwischen, »einen großen Vorzug haben wir drei durch unsere Namen, Namen wie Steine. Franz, Hans, Heinz. Namen der Beständigkeit! Die lassen wir uns nicht nehmen, auch nicht vom Muskelspiel der neuen und nächsten und scheußlich anderen Zeit. Unser Schachfreund Gadow sollte wegen der trotzigen Einsilbigkeit eigentlich Horst heißen. Heißt er so? Was wissen die jungen Bürschchen vom Winter 45/46, dem ersten nach dem Krieg? Das war ich acht und lebte noch in Schlesien. Wir hungerten. Ein schöner großer Pole, den alle aber ›Schacherjude‹ nannten, tauschte in der Gegend, auch bei uns, Kleidung und Silberbestecke gegen Nahrungsmittel. Er kam zweimal im Monat. Zum Schluß waren alle Wohnungen kahl. Ich brachte sein Gepäck auf einem Schlitten nach Anbruch der Dunkelheit zu einer Stelle, wo der Zug wegen einer Steigung langsam fuhr. Dort sprang er mit seinen Koffern auf. Anschließend durfte ich in seiner Wohnung die halb aufgegessenen Eßwaren ausräumen. Das war mein Verdienst bei der Sache.«
»Überblicke jeden Bereich deines Lebens. Dieser beeindruckende und intuitive Organizer koordiniert deine To-do-Listen mit deinem Kalender und hilft dir, schnell Prioritäten zu sehen: Schon eingetroffen, und weiter im Kommen sind Gier, Überwachung, Hygienewahn!« schrie der zweite Freund.
»Da beginnt unsereins zu fremdeln. Statt des warmen Pfusches kalter Fake. Das Zeitalter von Fälschung und Attrappe im Globalstilbricht an. Die kolumbianische Armee tötet junge Straßenbettler und gibt sie als Rebellen aus, um die Kampfstatistiken hochzujubeln. Das nur als Beispiel im Kleinen. Konzerne regieren mit Lobbyisten und Kanzleien unter der Maske der Demokratie. Im Gesundheitswesen werden Betrugsskandale zum Gewohnheitsrecht. Alles infernalische Signale des Epochenwechsels. Und was ist der Clou? Die, die uns davon auf dem Bildschirm berichten! Die lächelnden Direktricen der Weltkatastrophen. Die sind die eisige Pointe. Die geben den Vorgeschmack kommender Lustigkeit in menschenleeren Räumen als Vorwegnahme elitärer Scheinzukunft für alle. An kahlen Nachrichtentheken beschenken sie uns mit sortierten Schreckensbotschaften aus den Bezirken der Überbevölkerung. Nee, nix da, wir nicht, mit uns nicht mehr. Adieu und ab zu den Hochstammrosen.«
Franz Fritzle war vor Eifer aufgesprungen.
Sie warteten noch auf den Gast dieses Abends. Es würde der Sohn von Frau Fendel aus der Irenenstraße sein. Dieser Sohn wohnte in München, und die Männer wußten, daß er den Unfalltod seines Zwillingsbruders noch immer nicht verkraftet und seine bildschöne Freundin ihm vor kurzem den Laufpaß gegeben hatte. Nur wegen dieses zweiten Unglücks besuchte er nach sehr langer Zeit seine Mutter, die Fritzle informiert und um die Einladung zum Aufmuntern ihres Sohnes, eines tüchtigen Turnierspielers, gebeten hatte. Ob der Bursche wohl einen von ihnen, Hans, Franz oder Heinz, durch seine noch frische, geschmeidigere Intelligenz besiegen würde? Remis? Fast spürten die drei Freunde einen Hauch von jugendlichem Lampenfieber.
Als sie Fendel dann leibhaftig sahen, waren sie sofort sicher, einem Verlierer gegenüberzustehen. Im Grunde hatte man es an der Art seines irgendwie bleichen Klingelns gehört. »Fendel«, sagte er flüsternd, eigentlich röchelnd. »Ich danke für die Freundlichkeit und weiß
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