Gewäsch und Gewimmel - Roman
kräftig die gut riechende Bergluft ein. War das gesund! Zwei Kilometer, die schaffte er doch spielend in zwanzig Minuten, da es keine Höhenunterschiede zu überwinden galt. Nach einiger Zeit entdeckte er wieder ein Schild. Auf dem stand »Molinis 3 km«.
Wind sah an der grünen Bergflanke hoch und auch nach unten, sah dorthin, wo er hergekommen war, und auch, wo er hinwollte. Bei schlechterem Wetter wäre das eine ärgerliche Sache. Entweder die guten Hiesigen hatten sich mit der ersten oder der zweiten Tafel vertan, oder sie machten sich, diese Bergschlitzohren, diese Hochgebirgskäuze, einen Ulk mit unkundigen Wanderern. Er jedoch ließ es sich nicht verdrießen. Vielleicht hatte er sich allerdings beim ersten Schild ja auch verlesen? Er, Wind, zog pfeifend seine Bahn, erspähte schließlich einen neuen Wegweiser und näherte sich ihm auf Zehenspitzen. Was würde sich nun herausstellen? »Molinis 4 km« witzelte es dort deutlich schwarz auf gelb, ohne Zweifel.
Um den Fall zu bereinigen, mußte er wohl umdrehen, mußte Klarheit gewinnen, indem er die früheren Maßangaben überprüfte. Hatte er nicht Zeit genug, sangen die Vögel nicht in den Fichten, huschten nicht Eichhörnchen rot und schwarz und dann und wann über die Straße, hörte er nicht unbekümmert seine Schritte und sonst nichts Menschliches? Glanzvoll grüne Einsamkeit, feucht kupferne Einsamkeit mit einer vereinzelten Walderdbeere darinnen. Wind sang laut vor sich hin, er übte den Affengang von früher, aus der Kindheit. Das erforderte Gelenkigkeit und Albernsein. Es klappte noch ganz passabel. Die Bäume, die Fliegenpilze und der graurosa Alpendost, die würden sich wohl kaum daran stören.
Aha, sieh an, das Schild von eben! Dann konnte er ja vorhersagen, was darauf stehen würde. Es genügte, einen Seitenblick daraufzu werfen, falls er sich doch hatte täuschen lassen. »Molinis 5 km« las er. Die Angabe ließ kein Deuteln zu. »Nerven bewahren«, sagte Wind. Er versuchte zu lachen, er marschierte einfach weiter, er wollte wenigstens die Tafel, auf der er vorhin die Angabe »Molinis 2 km« vorgefunden und geglaubt hatte, wiedersehen. Wem sollte er trauen, wenn nicht seinen eigenen Augen? Als er aus der Entfernung das gewisse Gelb erkannte, begann sein Herz zu rumoren. Er kam auf den Einfall, sich rückwärts dem Schild zu nähern. Auch das hatte er in Kindertagen oft geübt, sogar rennend. Wind hoffte auf die Zwei, er fürchtete eine andere Zahl. »Molinis 6 km« stand dort prompt in der hier überall gewohnten Weise.
Herbert Wind mußte sich ein Weilchen am Pfosten des Wegweisers festhalten. Er schlug sich mit der Faust auf den Kopf, um ihn geradezurücken, er horchte. Es fiel ihm nichts Besseres ein und nutzte nichts, Geräusche änderten nichts an den Zahlen. Oder doch? Hörte er nicht das Schlagen einer Turmuhr? Dumm! Dumm! Dumm! Er trug eine Armbanduhr bei sich, aber dieser Glockenklang war nun etwas vollkommen anderes. Er half Herbert beim Mitzählen auf die Sprünge. Obschon er zu spät angefangen hatte, ahnte er ja auf einmal, was hier getrieben wurde.
Ob man, vielleicht an jedem Sonntag, vielleicht für jeden einsamen, verwirrbaren Wanderer, nicht den zurückgelegten Raum verzeichnete, sondern das Zählen an die gewissenhaft buchführende Zeit delegierte? Vor- oder Zurückgehen war egal, unbeirrbar addierte sie die Stunden. Das hielt niemand auf, da konnte er im Sturmschritt oder im Affengang auf Molinis oder Sinilom zulaufen. »Molinis 2 km« würde er nie wieder antreffen, ob er zwischen den Anzeigen hin- und herpendelte, mäuschenstill wie angewurzelt auf dem Fleck stand oder sich über die bisherigen Positionen nach vorn, nach hinten hinaus traute. Das Zählwerk würde arbeiten, bis ein Auto käme und ihn mit sich nähme.
Am besten solange totstellen!
Es erschien dann auch. Ein Mann, dem ein Goldzahn aus dem Mund funkelte und der ihn fragte, ob er nicht preiswerte Teppiche, wenigstens eine der im Auto mitgeführten kleinen Brücken kaufen wolle, fuhr mit ihm mühelos zu den Häusern, und man merkte nichts mehr. Wind, als er zum Bier, zwei Brücken mit Phantasiemustern neben sich, seine Bratkartoffeln aß, schmunzelte mit aller Kraft: »Ein Scherz.«
Das Übermächtige
Die kleine Ilse gibt ihrer Umgebung zunehmend Rätsel auf. Jetzt ist noch ein merkwürdig abwesender Blick hinzugekommen, nein, man müßte wohl sagen, er ist derart zudringlich, daß er über das Maß und den Gegenstand hinausschießt. Man möchte das lieber
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