Gewäsch und Gewimmel - Roman
einigermaßen glücklichen Menschen essen, um die Stimmung zu retten, große Kuchenstücke im Warmen, die verzweifelten jeden Alters werfen sich vor Züge.
Mißtrauen
Moritzstraße. Elsa in der Nacht zu ihrem Freund: »Ich traue Frau Wäns nicht über den Weg. Da geht diese kleine, kluge Frau durch den Wald, begeistert sich wie ein Kind an den Massen von Sternmieren, auch wie rechts die junge Maissaat in schnurgerade Linien zum Horizont schießt, aber links die Wiesen schon voller Greisenhäuptchen sind, bleibt oft stehen, kann sich nicht sattsehen, lacht vor Glück und spricht davon, wie im Juni Holunder und Wildrosen, Giersch und Wiesenkerbel an den Wegrändern blühen: ›Alles weiß wie in ihrem Wartezimmer, Frau Elsa.‹
Gleichzeitig sehe ich, wie sie sich heimlich Tränen abwischt. Immer neu laufen sie nach.«
Die liebste Patientin
»Deine Daphne«, nennt Elsas im Augenblick seelenruhig (das Bett ist noch voll vom vielsagenden Duft blühender Eßkastanien) vor sich hinträumender Freund gelegentlich die fast schmächtige Wandererin Wäns, ohne sie persönlich zu kennen.
»Einspruch«, hat Elsa gesagt. »Frau Wäns flieht weder vor göttlichen noch irdischen Anträgen. Du müßtest sie einmal mit all deiner Schläue belauschen, wenn sie, so rührend indirekt, von ihrer glühenden Liebe zu einem gewissen Hans Scheffer erzählt! Sie glaubt felsenfest, ich ließe mich täuschen. Ansonsten stapft sie unersättlich, stapft ganz besessen herum zwischen Heidekraut und Brennesseln, zwischen Tümpeln und Pilzen. Die läuft in ihren derben Schuhen vor niemandem weg, vor keiner Menschenseele, und keine jagt ihr nach. Die pilgert bloß für sich wie verrückt im braunen Abendlicht an den Wiesen entlang.«
Daphne? Schnapsidee! Der Freund liegt diesmal vollkommen schief.
Drei Nächte später sagt Elsa, nachdem sie eine Haarsträhne unter seinem Arm weggezerrt hat: »Die damals fast zu flott wiederhergestellte Frau Wäns, Luise Wäns, war mir doch von allen Klienten am liebsten. Ich wüßte zu gern, warum! Ist das der Grund, weshalb ich manchmal draußen bei ihr bin? Eine Landschaft, in der man nichts ahnt von den Baumärkten und Discounterhallen, die sich gleich daran anschließen. Ein Stück weiter folgen die Deichwiesen mit der besonderen Stille voller Schafblöken und leisem Fahrradklingeln. Danach, und schon am Horizont, die Kraftwerke. In dieser unechten Wildnis, in der sie herumstreicht und manchmal den Nachbarn Holterhoff trifft, wandere ich mit ihr, falls ich kann und sie will, wandere mit dieser kleinen, beinahe schon alten Person, die nicht zuverlässig Lust hat, in meiner Gesellschaft zu marschieren. Was meinst du, rate, was ist an ihr das Besondere?
Oder gibt es da gar nichts, außer, daß man sie jetzt dort draußen heimtückisch beraubt hat? He, Faulpelz, Henri, bist du noch da? Hörst du? Und so roh in den Dreck gestoßen, daß ihr die Knochen gebrochen sind?«
Keine Antwort. Wer weiß, vielleicht ein anderes Mal.
Zweiter
Teil
Luise
Wäns
1. Wanderung
Mein Zittern, ganz leicht nur, mein verstohlenes Zittern vor einem Jahr gegen Mitternacht, an seinem ersten Abend bei uns im Tristanweg, an dem Sabine fast geweint hat vor Aufregung, bevor all die sympathischen Leute eintrafen, auch Essen und Getränke mitbrachten! Es gab gegen Ende ein Duett, ein Mann und eine Frau sangen. Herr Scheffer nahm es leider wieder mit. Ich hatte noch nie so etwas gehört, Musik, als könnte man danach nicht weiterleben. Jedenfalls war es der Moment, in dem ich mich endlich im Herzen besänftigte, selbst mein Gehirn besänftigte sich.
Jeder hier liebte Herrn Scheffer.
Wie heute auf den Tag schimmerten damals zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr draußen alle Wasserflächen. Winzige Tropfen an den kleinsten Gewächsen. Das alte Gras, was war’s? Segge, Binsen, Simsen, Schilfröhricht, Riedgras, Reitgras? Es loderte regelrecht zwischen Pferdeäpfeln und verdorrter Heide, alles genau wie jetzt. Das welke Kraut wirkte, es ist ja immer so im Dezember, so mürrisch, daß ich lachen mußte.
Noch am Morgen hatte ich etwas von Herrn Holterhoff erfahren, vom Nachbarn Holterhoff, der unentgeltlich überwacht, ob sich im Schutzgebiet die Kiebitze gegen die Krähen durchsetzen. In unserem Viertel, rief mir der Mann schon von weitem zu, seien im November eine Alexia, eine Cassandra, ein Bennie und ein Noah geboren worden. Für immer verlassen aber hätten unsere Erde ein Klaus, eine Thekla, ein Hugo, eine Maria.
»So was«, habe ich
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