Gewalt ist eine Loesung
einige Optionen durch. Die Leuchtkugel konnte schwere Verbrennungen verursachen. Eigentlich war der Engländer zu nah, um mit der Leuchtmunition auf ihn zu schießen. Und was war in den Kanistern in der Garage? Benzin? Lösungsmittel? Brennende Substanzen? Würde vielleicht die ganze Hütte in die Luft fliegen? Viele Gedanken schossen mir in diesen Sekunden durch den Kopf. Mahnende Stimmen, Bedenken, Vernunft. Aber meine Rachegefühle gewannen. Ich zog den Auslöser und ließ den Verschluss nach vorne schnellen, um die Patrone zu zünden.
Die Zündkapsel reagierte nicht. Eine Fehlzündung! Ich drehte die Signalpatrone noch mal nach und schoss erneut in seine Richtung. Die Munition zündete wieder nicht. Mittlerweile riss der Engländer eine Tür zum Treppenhaus auf und flüchtete in ein Wohnhaus. Die Feuerschutztür fiel krachend hinter ihm ins Schloss. Ich lief zu der Tür und riss an dem Griff. Nichts. Sie war von innen verriegelt. Der Thommy war entkommen.
Als ich wieder aus der Garage heraustrat, hörte ich die ersten Sirenen. So schnell wie nur möglich rannte ich zu dem Zelt zurück, um die anderen vor der heranrückenden Polizei zu warnen. Ich kletterte durch den gerissenen Schlitz in der Zeltwand und beobachtete, dass Frank gerade unseren alten Schulkollegen Mark verprügelte. Den Partyveranstalter. Frank drückte ihn gegen einen Holzbalken der Außenwand des Zeltes und schlug ihm mit seiner rechten Faust mehrmals gezielt und hart ins Gesicht. Mit dem linken Arm hielt er ihn am Hals fest und positionierte den Kopf so, wie er ihn zum Schlagen am besten gebrauchen konnte. Mark schrie, von Angst, Panik und Schmerzen getrieben. Er schrie und schrie um Hilfe.
Uns trennten nur wenige Meter, aber ich musste sehr laut schreien, um den Kampflärm zu übertönen. »Alle weg! Die Polizei kommt! Los, raus hier!«
Als wir aus dem Partyzelt rannten, fuhr bereits der erste Polizeiwagen mit quietschenden Reifen quer über den Gehweg. Drei Polizisten in Zivil stürmten raus. Ich sah Schlagstöcke und Funkgeräte in ihren Händen. Das Geheule der unzähligen Sirenen wurde immer lauter. Es dröhnte aus allen Richtungen zu uns her und wurde immer intensiver. Keiner von uns wollte die Silvesternacht in einer Zelle verbringen und dazu noch eine deftige Strafanzeige kassieren. Jetzt gab es nur noch eines: Flucht!
In alle Himmelsrichtungen rannten unsere Jungs vom Tatort weg. Ich lief den gut verborgenen Fahrradweg zurück. Neben einem Baum sah ich die Freundin des Kerls hocken, der auf dem Hinweg bewusstlos geschlagen wurde. Sie kauerte noch immer panisch auf dem Boden und litt unter einem Heulkrampf. Ihren verletzten Freund konnte ich nicht sehen. Martin, einer von den Jungs, blieb kurz stehen und sprach beruhigend auf sie ein. Ich lief weiter. Mein Kippschalter war auf Polizeistrategie umgelegt. Ich dachte zwar wie ein Polizist, was mir immer wieder aus der Patsche geholfen hatte, aber ich handelte letztlich wie ein Straftäter und flüchtete weiter. Alle Antennen standen auf Alarm. Und nur der reine Überlebensinstinkt ließ mich noch funktionieren.
Um mich herum rannten noch weitere Jungs weg – Michael, der Koch, ein Prager Tätowierer, der gerade zu Besuch in Bielefeld war, und Tom, der die Schlägerei auf dem Fahrradweg eröffnet hatte. Alle liefen nur noch. Die Straßenbahn-Endhaltestelle Sieker war erreicht. Ein sicherer Ort? Unmöglich, dies einzuschätzen. Wir mussten weg. Weg! Weit weg!
Gepusht durch das Adrenalin und die Anspannung, war ich schlagartig wieder nüchtern. Ich versuchte, mich zu beruhigen und meine Gedanken zu ordnen. Ich musste es! Du bist ein Polizist, also denk wie ein Polizist, hämmerte ich mir ein. Versuche, dich in die Lage der Beamten zu versetzen. Was würde hier gleich passieren? Auf was musste ich achten? Eine innere Stimme sagte mir, dass ich mich absetzen musste. Bleib alleine, meide größere Personengruppen. Die werden als Erstes festgenommen. Größere Gruppen fallen auf, Einzelpersonen nicht! Los, weg!
Ich trennte mich von der Gruppe und lief weiter – allerdings tiefer in das Viertel hinein und nicht mehr Richtung Innenstadt wie alle anderen. Ich musste weg von diesen verdammten Streifenwagen, die immer zahlreicher wurden. Und dann sah ich ein Taxi an einer roten Ampel stehen. Ich schaute mich um, ob irgendwo ein Polizeiauto zu sehen war, und rannte über die Kreuzung. Die Mütze steckte ich in die Jackentasche – das Tuch war mir bereits bei der Jagd nach dem Engländer vom
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