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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Käfer, etwas will in meinen Mund kriechen, ich presse die Lippen zusammen und spucke es weg, aber da bewegt sich noch was, ich spür’s schon an meinem Zahnfleisch, ich ziehe ein paar lange dünne Beine aus meinem Mund, ein halber kleiner Körper noch dran, könnte eine Spinne gewesen sein, ich hasse Spinnen, leide an schlimmer Arachnophobie, die Beine bewegen sich noch auf meinen Fingern, und ich schnippe sie, in Panik geratend, weg. Die beiden anderen Kanureisenden scheinen nichts zu merken, rudern schweigend, das Paddel nach links, das Paddel nach rechts, und als ich mich zu meinem Antiquar umdrehen will, sehe ich die schwarze Spinne auf meiner Schulter. Was sind das für Spinnen, die in Bäumen leben? Ich höre meinen eigenen Schrei, als wenn er nicht von mir käme, aus meinem aufgerissenen Mund, hoch und schrill verhallt er zwischen den Bäumen. Die beiden blicken mich an, ich bin in der Mitte ihrer Blicke, sie begreifen nicht, was passiert ist und warum ich schreie. »Schlag sie tot, schlag sie doch mit dem Ruder tot!« Aber da habe ich sie bereits totgeschlagen, mit der flachen Hand so stark auf die Schulter, dass sie mir schmerzen wird, bis weit in den nächsten Tag, Montag 17 .August, und die Spinne klebt zerquetscht auf meiner Handfläche. Bevor ich sehen kann, ob sich auch dieser Kadaver noch bewegt und mit den langen Beinen zuckt, schüttele ich meine Hand immer wieder im schlammigen Wasser, tauche sie tief ein, dass ich den Grund berühre und dort kleine Steine fühle, sehr glatt und seltsam warm. Fast keine Strömung im Elstermühlgraben, aber wir fahren mit dem Strom, der uns bald zu einem Arm der Elster und zur Parthe bringen wird. Dort ist der Wasserstand höher, meint mein Antiquar. Ich fahre mit beiden Händen
immer wieder über meine Kleidung, meinen Rücken, aber da sind keine Spinnen mehr, der Antiquar hat schon genau geguckt. Wir paddeln weiter. Käpt'n Ahab und meine Frau sind nicht mehr zu sehen. In meiner Wohnung verbrenne ich Spinnen mit einer Art Flammenwerfer, ein Feuerzeug vor einer Sprayflasche, Deo oder Desinfektionsspray, ich denke, dass das ein schneller Tod ist für diese Tiere. Meine Mutter sagt, die Milben werden mich auffressen, wenn ich die Spinnen töte. Einmal saß eine riesige schwarze Spinne draußen im Treppenhaus über meiner Wohnungstür. Sie muss sehr alt gewesen sein, groß wie eine Untertasse, zwei oder drei Tage saß sie dort, ohne sich zu bewegen, die Angst war immer da, nicht nur beim Betreten oder Verlassen der Wohnung. Ich habe sie mit einem Besen zerquetscht, hab mich nicht nah genug an sie rangetraut mit meinem Flammenwerfer. Ich habe den Besen schreiend immer wieder auf die Fliesen des Treppenhauses geschlagen, bis der Körper vollkommen zerlegt war, ich hörte ihn schon zerbrechen, als der Besen ihn das erste Mal traf an der Wand. Sie muss schon sehr alt gewesen sein. Ich träume oft von Spinnen, vielleicht sind das die Seelen der tausenden Verbrannten und Erschlagenen, die in meine Träume kriechen, aber Spinnen kriechen nicht, sondern
schnasseln
, rasend schnell ihre Beinchen bewegend.
    Es ist still hier, die Sonne scheint vor uns durch die Bäume, verschwindet dann wieder hinter dichtem Grün. Irgendwo hinter der Uferböschung und den Bäumen verläuft eine große Straße, aber die Autos sind kaum zu hören, nur ein leises Summen in den wenigen Augenblicken, wenn die Blätter unserer Paddel in der Luft stehen, bevor sie klatschend ins Wasser fahren. Ein kleines vergittertes
Steintor zur Kanalisation direkt neben uns. Ich versuche, ins Dunkel zu blicken, aber wir gleiten weiter. Faulige Äste im Wasser, die wir umfahren müssen. Immer wieder sehen wir Nutrias, kleine Biber. Sie schwimmen neben dem Boot, hocken im Uferschlamm, sie müssen ihre Höhlen unter der Böschung haben. Der Laubwald um uns wird immer dichter, Vogelrufe, die ich nicht kenne, und kein Haus, kein Mensch zu sehen, als wären wir nicht mitten in der Stadt, alles verschwunden plötzlich, und wir in einem Urwald, der nicht endet, so lange wir auch rudern. Müsste nicht ein Arm der Elster vor uns liegen, ein größerer, breiter Strom, der uns zwischen Kleingartenanlagen und steilen Hausfassaden durch den Westteil der Stadt tragen wird? Vorbei an Fabrikanlagen, Kanalmündungen, Industriekanälen, Häuserfronten mit Fenstern direkt über dem Wasser, verwilderten Gärten, unter S-Bahnbrücken hindurch; da sitzt ein Nutria unter einem Birnbaum, aufgerichtet auf den Hinterpfoten isst er einen

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