Gewalten
erkennen wir, je näher wir kommen, die Ruder genauso sporadisch wie sie ins Wasser tauchend, da schimmert etwas bläulich, halb durchsichtig, aber dennoch materiell, an einem langen, weißen Faden hängend, der von oben aus dem Baumdach kommt. Ein bläuliches Pulsieren, zwei längliche Körper, schlangengleich, ineinander verflochten, die etwas absondern, das sich unter ihnen zu einer Art kleinem Kokon verbindet, alles schwerelos beinahe, wenn der Faden nicht wäre. »Tigerschnegel«, sagt Ahab mit tonloser Stimme. »Sie paaren sich. Wir dürfen nicht zu nah ran, sonst bemerken sie uns.« Es ist der Kokon unter ihnen, der so bläulich leuchtet und pulsiert. Die beiden ineinander verflochtenen Körper der Tigerschnegel sind mit einem feinen, weißen Schleim bedeckt. Sie hängen kopfunter, ich kann ihre kleinen Fühler erkennen, die so klein gar nicht sind, denn die Schnecken, und nichts anderes sind Tigerschnegel, sind zu einer beträchtlichen Größe geschwollen, auch der Kokon. Ich habe von diesem Paarungsvorgang gehört. (Im Internet auf
Youtube
finden sich Aufnahmen, wenn man so etwas wie »Schnecken Paarung« eingibt, aber kein Hinweis auf die Gefahren.) Die Schneckenart ist nur noch selten anzutreffen. Ihre Geschlechtsorgane, penisähnlich, an deren Enden der blau schimmernde Ballon wächst und wächst, kommen aus schleimigen Öffnungen auf ihren Köpfen, oberhalb der Fühler. Die meisten Schnecken sind Zwitterwesen. In dem Kokon verbinden sich Ei und Samen. Sie kriechen auf Bäume, die Tigerschnegel (leopard slug im Englischen), um sich, an dem Schleimfaden schwebend, Platz zu schaffen für diesen langwierigen Vorgang. Energien fließen, und wir starren auf dieses
blaue Licht. »Sie werden ertrinken«, sagt Käpt’n Ahab, »wenn sie fertig sind, lassen sie sich fallen. Sie wissen nicht, dass Wasser unter ihnen ist.« Er rudert also sein Boot direkt unter das Gehänge, und wir rudern mit, können unseren Blick nicht losreißen von dem Kokon, der sich jetzt zu seiner maximalen Größe aufzublähen scheint, ein kleiner Riss in der Hülle, Strahlen, die sich fächerförmig ausbreiten wie die Mauern durch den Wald, Z im Zentrum, und jetzt? Wir sind erfasst, Zeit und Raum, die Tigerschnegel-Ellipse, ich habe davon gehört, Sekunden-Stunden, die Stadt und die Ströme werden absolut, relativ, what you think is where you are,
Wir wollen rudern fahren
, und wir rudern. Man kann, davon habe ich gelesen, eine Boing 727 mieten, 45000 Euro kostet das, die fliegt dann Achterbahnkurven, Parabeln (Geometrie habe ich als Kind gehasst, aber sie scheint mir doch vieles zu erklären), steil aufwärts von 7000 auf 10000 Meter und im Sturzflug auf 7000 zurück, maximal fünfzehn Mal (warum nicht öfter, weiß ich nicht, vielleicht hängt das mit der spontanen Materialermüdung zusammen), am Ende jeder Parabel tritt ein kurzer Zustand der Schwerelosigkeit ein, man lässt sich festschnallen, Gurte mit viel Spielraum, vielleicht schwillt auch das Gehirn ein bisschen an, Paarungen von Erinnerungen und Visionen, Vergangenheit und Zukunft.
Wir liegen in der Mitte des Elsterflutbeckens. Als Kind kannte ich nur diesen Teil, breit wie die Donau, »Was für ein riesiger Fluss«, dachte ich, aber ich sah nicht, dass er nur ein paar hundert Meter weiter sich wieder verengt, dass man glaubt, von Ufer zu Ufer springen zu können. Straßenbahnen und Autos fahren über eine große Brücke, auf der ich als Kind so oft stand, dahinter das Wehr, über das eine kleinere Brücke führt. Dort donnert das Wasser
ins Flutbecken. Ich sehe das Riesenrad hinter den Bäumen. Dort ist der Rummelplatz,
Kleinmesse
heißt das in der Stadt L. Links und rechts erstrecken sich große Parkanlagen, »die grünste Stadt Deutschlands«, sagten sie früher. Den geschwungenen obersten Bogen einer Achterbahn kann ich erkennen. Rot-blau-grün, das Farbband der Wagen. Höre ich nicht das Schreien der Passagiere, die kopfunter hängen?, wenige Sekunden nur im Scheitelpunkt der Bahnparabel, wenn die Wagen nach unten eindrehen. Aber das Schreien kommt woanders her, unsere beiden Boote in der Mitte des Stroms scheinen zu verharren, obwohl wir die Ruder stillhalten und die starke Strömung uns weitertragen müsste; die Schreie sind hinter uns, noch hinter der Brücke, am Wehr. Wir drehen bei, Ahab kommandiert die Ruderschläge, wir stemmen uns gegen den Strom. Und da sehen wir, durch das Dunkel der Brücke hindurch, die kleinen Boote im Sturzbach des Wehrs. Und wir rudern,
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