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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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in die Kasernen. Ich weiß das, denn ich habe in diesen stillgelegten Komplexen, die Kleinststädten ähnelten, als Wachmann gearbeitet, mit meinem Hund, 1999 war das, kurz bevor die Computer vor der 2000 kapitulierten und das Chaos auslösten. Ich hatte damals eine Zeitlang sogar den Verdacht, ein nach dem Abzug der Truppen zurück gebliebener Sowjetsoldat lebte dort, Ausstiegschächte gab es genug, auch unterirdische Bunker gefüllt mit Lebensmitteln für die Zeit nach dem
großen Schlag
. Schritte hörte ich da nachts auf den Fluren und Gängen der leeren Gebäude und Offizierkasinos, in denen es sogar riesige Schwimmbecken gab, mit Glasscherben bedeckt der Grund, ich leuchtete hinein vom Beckenrand aus mit meiner Taschenlampe Marke Maglite und hörte Geflüster auf Russisch, Selbstgespräche mussten das wohl sein, wenn das von den Scherben reflektierte Licht mich blendete; »Budjit, budjit« und »Nu pagadi!«; das traurige Summen der russischen Seele und das metallene Scheppern der Gullydeckel weckten mich aus meinem flachen Schlaf, ich hatte ein kleines Kabuff nicht weit vom Tor. Ein Teil der Hauptkaserne am Stadtrand wurde später zu einem Asylbewerberheim umgebaut, und vielleicht verschwand der rote Soldat, Budjonnys letzter Reiter, auch ohne Pferd, zwischen den Fremden.
    »Kennst du diesen Film von Andrzej Wajda«, frage ich und drehe mich um zu meinem Antiquar, der wie gebannt auf das gewaltige Gebäude des Reichsgerichts starrt, das über uns am linken Ufer dieses Pleißestadtkanals auftaucht wie eine Burg, »
Der Kanal
, über den Widerstand gegen die Deutschen im Untergrund von Warschau?«
    »Nein«, sagt er und sein Ruder fährt dicht an meinem Kopf vorbei ins Wasser, »Dimitroff.«
    »Nein, nein«, sage ich, hier wird zu viel Geschichte aneinandergeschnitten wie in einem B-Movie,
Aktion Historia
, Georgi Dimitroff, verteidigte sich 1934 hier am Reichsgericht gegen die Nazis, ich weiß und schaue nach vorne und würde mich nicht wundern, dort im Wasser Heiner Müllers Engel der Geschichte waten zu sehen, Trümmer und Phrasen auf seinen Schultern zwischen seinen zerfetzten Flügeln. Genug, genug ...
    »In diesem Film«, sage ich und hoffe, dass wir am Reichsgericht vorbei sind, wenn ich erzählt habe, was ich unbedingt erzählen
will
, schreie es laut übers Wasser, damit auch Ahab und meine Frau es hören, »da steigt ein Mann aus dem Untergrund, hat endlich den Ausstieg aus der Kloake gefunden, seine Truppe ist zersprengt, ein Mann und eine Frau aus seiner Truppe, das kann er aber nicht wissen, klammern sich an einen vergitterten Ausgang zur Weichsel und aneinander, sie werden dort krepieren, andere fallen den Deutschen in die Hände, andere fliehen immer tiefer in die Kanalisation und ersticken in den Klärgasen, und er kommt raus, sieht seine zertrümmerte Stadt, blickt sich um, alles KAPUTT und fast alle TOT und steigt wieder, resignierend, ins Dunkel hinab.«
    Aber keiner hat mich gehört, wie es scheint, seltsam paralysiert rudern sie weiter, seit so vielen Seemeilen keine Insekten und Reptilien und Kriechtiere in Sicht, und ich selbst weiß nicht, ob ich gesprochen oder nur gedacht habe,
what you think is where you are
, denn die Burg über dem Ufer ist nur noch ein Steinhaufen, über den Hunderte von Menschen kriechen. Dem neuen Rathaus, ein Stück
hinter uns zu sehen, fehlt der Turm, die große Uhr scheint in der Luft zu schweben. Genug, genug ...
    Wie hier rauskommen? Ohne zu erzählen, wohin uns die Ströme noch getragen haben? Die Hafenspeicher am Kanal im Westteil der Stadt, den der Führer durchbrechen wollte zu den großen Kanälen des Landes, dem Mittellandkanal oder dem Saale-Elbe-Kanal, wir waren auf den großen gefluteten Tagebauen am Rand der Stadt, auf deren Grund tote Dörfer liegen, aber wo war das blaue Licht.
    Ich werde es forcieren, hier und jetzt: Ein Auge, rechts oder links spielt keine Rolle, ist geschlossen, ich kontrolliere das Lid und spüre das Pulsieren darunter. Dort habe ich, denn wir leben in einem B-Movie der Extraklasse, das blaue Licht der Stelen eingefangen, die säumen die wieder geöffnete Pleiße zur Straße hin. Öffne deine Augen ... Fächerförmige Strahlen mitten durch unsere Hirne ... Der Faden reißt. Die Tigerschnegel fallen in Ahabs Boot. Vor uns der Strom. Doch wir kehren um. »Gutes Wetter heute. Mein Nachbar hat den Grill im Garten vorbereitet.«
    »Ja.«
    »Ja.«
    »Ja.«
    Wir fahren, wohin wir fahren.

Tribünen
    I
    Das Pferd ist ohne Reiter. Es

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