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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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stoßen die Paddel mit aller Kraft in den Strom, kommen nur langsam voran, hören die Hilfeschreie aber so nah, als wären wir schon dort. An den Ufern, neben der kleinen Brücke über das Wehr, stehen Menschen, die gestikulieren, winken und schreien, es müssen die Eltern dabei sein, denn in den stürzenden Booten sitzen Kinder. Die Kleinmesse verschwindet aus unserem Blickfeld, Achterbahn, Riesenrad, auch das große neue Stadion, am anderen Ufer gegenüber, sehen wir nicht mehr, Kleinmesse-Stadion, die Spiele mögen beginnen; wir sind jetzt unter der ersten Brücke, die zweite Brücke führt über das Wehr, wir hören die Schreie nicht mehr, das Brummen der Autos über uns, das stählerne Donnern der Straßenbahnen in den Schienen, unter der Brücke ist die Strömung am stärksten, die Boote stellen sich quer, Ahab ruft. Nein, wir
können nicht helfen, ob wir stehen oder vorankommen, entscheiden nicht wir, unsere Hilfe kommt zu spät, und wir sehen den Hubschrauber, der FLAPP FLAPP FLAPP über dem Wasser kreist.
    Was war nur gewesen, und wie lange ist das her, ein Jahr, zwei Jahre? Strahlen, bläulich, fächerförmig durch meinen Kopf. Ein Kanufest mit Kindern, wie viele sind ertrunken auf dem Sturzflug durch das Wehr? Eins war’s, und das tauchte erst Wochen später auf, Jahr 2008 , keine Parabel, die zurück zur Wasseroberfläche führte. Nein, gern will ich nicht weg von dieser Kleinmesse, die ich so liebe. Stundenlang flaniere ich zwischen den Buden und Fahrgeschäften. Vor kurzem war ich dort in einer Gaudi-Bude, der Fußboden bewegte sich, die Räume schrumpften, ich bekam einen leichten elektrischen Schlag, als ich nach dem Geländer griff (aber vielleicht war das nur die statische Aufladung), und als ich eine sehr steile Treppe ins Obergeschoss hinaufkletterte, wo ein rotierender Röhrengang eine gewaltige Gaudi versprach, teilte sich diese Treppe, oder besser gesagt
Stiege
, plötzlich und unvermittelt, riss meine Beine förmlich auseinander, so dass mein riesiger Penis (bläulich anschwellend und pulsierend) über dem mittigen Abgrund baumelte, mein linker Fuß von der Mechanik aber nach oben gerissen wurde, dass ich ihn direkt neben meinem Kopf sehen konnte, der rechte Fuß fuhr nach unten, ein schreiendes Lachen, das meins war, dröhnte durch die Straßen dieser verzweigten Wagenburg, und dann umgekehrt,
kongruent
würde der Mathematiker sagen, also das linke Bein mit den ratternden Zahnrädern nach unten und das rechte neben meinem Gesicht, eine wahre Höllenpolka, mein Gott, und da vorne wartet die Geisterbahn, und die Schienenstrecke mit dem
kleinen Zug und der Elektrolok, immer im Kreis durchs Märchenland, die die beiden Hundertjährigen betreiben und vorbei an Rehen und Schlössern steuern, er in der Lok, sie im Fahrkartenschalter, viel zu klein die Wagen für uns ausgewachsene Menschen, ich sitze quer in der ersten Klasse, die Schultern heben das Dach, und der Kopf flattert im Fahrtwind ...
    Warum können wir nicht anhalten und an Land gehen? Sekunden-Stunden, ich möchte es erklären, aber wer wird so etwas verstehen? »Und so regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.«
    Ende der Reise? Nein, noch nicht ganz, denn Fitzgerald, und von dem habe ich den Satz geliehen, schreibt von einem anderen Licht als dem, das uns jäh erfasste: »Gatsby glaubte an das grüne Licht, an die rauschende Zukunft, die Jahr um Jahr vor uns zurückweicht. Sie ist uns gestern entschlüpft, doch was tut’s – morgen schon eilen wir rascher, strecken weiter die Arme.« Aber da stimmt was nicht mit den Bildern, wir spiegeln uns schief und verzerrt im Wasser. Grün und Blau und schwarzes Wasser, Kinder mit Kiemen auf dem Grund, die strecken die Arme nach unseren Booten. Und wir rudern inmitten der Stadt, die Pleiße haben sie hier freigelegt vor ein paar Jahren. Die Sozialisten hatten sie zugemauert, eine Kloake voller Industrieabwasser, deren Gestank die Stadt verpestet hätte und den Untergrund und die Katakomben verpestet hat. Die Ratten verließen die Abwasserkanäle und lebten in den Hinterhöfen. Aber das hatte auch sein Gutes, der Widerstand konnte in den rattenfreien Kanälen agieren, die Stadt L unterwandern, die Sozialisten haben die Höhlen unter ihrem Imperium ahnungslos freigeräumt, Ratten
können keine Gasmasken tragen, aber der Widerstand erwarb sie im Schwarzhandel mit der sowjetrussischen Besatzung. Diese unterirdischen Kanäle führten bis

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