Gewitter über Pluto: Roman
drehte sich geschickt um die eigene Achse, sodaà der dünne
Mann aus seinem Wahrnehmungsfeld verschwand. Sogleich war die alte Ruhe hergestellt.
Kein Mensch stand mehr im Laden und stellte Forderungen. Was leider nichts
daran änderte, daà Lorenz ins Grübeln gekommen war. Stimmt, da war etwas
gewesen, etwas, das tief vergraben im konturlosen Nebel der linken Seite
steckte. Das nun aber aus diesem Nebel hochschwebte. Die Erinnerung nahm eine
klare Form an, ganz in der Art dieser verdrängten Momente der Kindheit, welche
nach Jahrzehnten wiederzuerkennen mitnichten die erwünschte Heilung bringt,
sondern bloà ein bewuÃteres Leiden erzeugt. â Vorher ist man einfach nur krank,
danach weià man auch, warum.
Claire Montbard hatte ihm, Lorenz Mohn, einen Kredit gegeben.
Richtig! Einen Kredit, der heute, sieben Jahre nach jenem 14. Juli, da er auf
der Terrasse von Montbards leicht heruntergekommener Jugendstilvilla gestanden
und deren gärtnernden Mutter zugesehen hatte, zurückzuzahlen war. In der Tat,
er hatte es vergessen, er hatte es einfach auf der linken Seite der Welt
zurückgelassen.
(Nun konnte man einwenden, daà Lorenz ja erst vor einem halben Jahr
mit seinem Infarkt bedacht worden war und solcherart auch mit seiner prägenden
Hirnläsion-Liaison. In der Zeit davor dürfte ihm die Notwendigkeit einer
demnächst anstehenden Rückzahlung von zweihunderttausend Euro durchaus bewuÃt
gewesen sein. Wobei freilich nichts dafür sprach, daà er irgendwann in diesen
sieben Jahren über den fälligen Betrag verfügt hatte. Sowenig, wie das »hier
und jetzt« der Fall war.)
Lorenz kehrte zurück in die ungeliebte Sphäre und blickte erneut den
Mann an, allerdings nur eine Hälfte dieses Mannes. Aber das genügte schon.
Jetzt erkannte er ihn. Es handelte sich um denselben unscheinbaren Menschen,
den Lorenz in Montbards Haus als Faktotum und gleichzeitig als Bruder der
Hausherrin kennengelernt hatte.
Dieser Montbard-Bruder öffnete seine Hände zu einer fragenden Geste.
»Ich habe das Geld nicht«, erklärte Lorenz trocken. Und fügte an:
»Was wollen Sie nun tun? Mir ins Bein schieÃen? Meinen Laden in Brand setzen?«
Der dünne Mann machte ein angewidertes Gesicht. »Wie kommen Sie auf
so eine Idee? Sehe ich aus wie ein Spaghettifresser? Wie ein irischer
Wirtshausschläger? Sehe ich aus, als sei das Brechen fremder Finger meine
gröÃte Leidenschaft? â Es gibt eine Vereinbarung, Herr Mohn, die klarer nicht
sein könnte. Falls Sie den Betrag heute nicht zurückbezahlen, haben Sie sich
ersatzweise verpflichtet, ein Leben zu retten. Ein bestimmtes Leben.«
»Und an welches Leben dachten Sie?« fragte Lorenz.
»Ich denke gar nichts. Das ist nicht mein Job.«
»Na gut. Was passiert jetzt?«
»Wir fahren gemeinsam zu Claire Montbard.«
»Sie ist doch Ihre Schwester, oder?«
»Das dürfte für Sie kaum eine Bedeutung haben, wer meine Schwester
ist. â Begleiten Sie mich einfach, Herr Mohn. Frau Montbard wird Ihnen
erklären, was Sie zu tun haben.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Nun ja, ich werde sicher keine Anstalten machen, Sie hier
herauszuprügeln. Sehen Sie mich an. Ich bin ein Huhn.«
»Und ein armes Schwein«, stellte Lorenz fest.
»Ein Huhnschwein also, ganz wie Sie wollen. Aber an Ihrer Stelle,
lieber Freund, würde ich lieber einem Huhnschwein brav folgen, als darauf
warten, doch noch von Leuten abgeholt zu werden, denen das Brechen fremder
Finger eine Lust ist. â Also? Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«
»Einen Moment«, ersuchte Lorenz, holte einen kleinen Notizblock unter
der Theke hervor und schrieb einige Zeilen an Sera: Mein
lieber Schatz, ich muÃte rasch weg. Mach dir keine Sorgen. Ein Freund fährt
mich. Bin bald zurück. In Liebe. Und auf ewig sowieso.
Ein Freund? Nun, es ging darum, Sera zu beruhigen. Vor allem, weil
Lorenz ohne fürsorgliche Begleitung die gröÃten Schwierigkeiten gehabt hätte,
sich in der Stadt zurechtzufinden. Bei der Umgebung der RosmalenstraÃe war das
anders. Da kannte er sich gewissermaÃen blind aus und konnte, trotz seiner
fehlenden linken Seite, all das finden, was er finden wollte. So wie er auch in
der Lage war, in seinen Laden oder Seras Wohnung zurückzukehren. Wenn er
hingegen ein FuÃballspiel des SK Rapid Wien besuchte, eine in ihrer
Historizität dioramaartig
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