Gewitter über Pluto: Roman
schaute er in das Gesicht eines Mannes, welcher sich
erkundigte, ob an diesem Tisch noch ein Platz frei sei.
Unfähig, sich den Grund für eine Ablehnung auszudenken, nickte
Lorenz und wies einladend auf den einen freien Stuhl. Der Mann dankte und
setzte sich. Er mochte um die Vierzig sein, athletisch, kantig, elegant, so ein
George-Clooney-Typ, sodaà nun also erneut â ein wenig wie damals, als Stavros
Stirling den Fall übernommen hatte â zwei ausgesprochen gutaussehende Männer
sich gegenübersaÃen.
Für eine am Optischen orientierte Frau wäre es schwer gewesen, sich
für einen von den beiden zu entscheiden, wobei freilich der Clooney-Typ eher
als ein Mann für gewisse Stunden und Lorenz eher als ein Mann fürs ganze Leben
gelten konnte. Lorenz besaà â zumindest, seitdem er über sein Neglect verfügte â einen Zug in seinem Gesicht, der, bei aller Liebe zum Leben, eine
Todessehnsucht verriet. Solche Männer taten nie etwas Halbes. Im Falle Lorenzâ
konnte man sagen: auch wenn er nur eine Seite des Lebens wahrnahm, die aber
ganz.
Der Clooney-Mann bestellte ein Bier und zündete sich in der Folge
eine Zigarette an. Er rauchte so entspannt wie hingebungsvoll. Dabei blätterte
er in einem Büchlein, überflog die eine oder andere Stelle, als sei er mit dem
Inhalt bestens bekannt, als suche er bloà Rat im Vertrauten. Gesprochen wurde
nichts. Lorenz wäre nie auf die Idee gekommen, diesen Mann beim Lesen stören zu
wollen. Umsomehr, als dieser seine Lektüre auch dann nicht beendete, als das
Bier kam. Er las und trank. Erst nachdem er sein Glas
halb geleert hatte, legte er den offenen Band auf den Tisch, erhob sich und
zwängte sich an den Sitzenden vorbei hinüber zu den Toilettenräumen.
Lorenz war nun doch etwas neugierig geworden. Das Lesen eines Buches
in einem solchen Lokal war so ungewöhnlich wie das Alleinsein. Und Lesen
wiederum durfte ja wohl als die extremste Form des Alleinseins bezeichnet
werden. Denn wen, bitte schön, konnte ein Leser auf die Reise in ein Buch, eine
Geschichte mitnehmen? Nicht einmal sein Haustier. Nein, in einem Buch war der
Leser ganz auf sich selbst gestellt.
Lorenz griff nach dem Band und hob ihn vorsichtig hoch, ohne die
Seiten zu verblättern. Er konnte jetzt den Titel auf dem Schutzumschlag
erkennen. Es handelte sich um eine Sammlung von Gedichten W. H. Audens.
Aha! Lorenz hob anerkennend seine Brauen. Der Clooney-Typ sah so gar
nicht nach Auden aus. Umso schöner, daà er ihn trotzdem las. Ohnehin sollten
Gedichte nur von Leuten gelesen werden, die nicht nach Gedichten ausschauen. So wie ja auch dicke Leute keine dicken Autos fahren sollten, weil die Verdoppelung des Dicken einfach zuviel
des Guten ist. Das ist übrigens das Problem von Charon, dem Mond des
Zwergplaneten Pluto. Charon ist im Verhältnis zu Pluto viel zu groÃ, um ein
richtig schöner Mond zu sein. Zwergplanet und Riesenmond, das schaut einfach
blöd aus.
Auden-Gedichte also! Lorenz lieà den Buchdeckel wieder los
und rückte den aufgeschlagenen Band in die alte Position. Dann sah er
pflichtbewuÃt hinüber ins Nebenzimmer. Noch war alles in Ordnung. Na,
möglicherweise würde ja auch gar nichts geschehen. Ja, vielleichtâ¦
Ja, vielleicht würden die Amerikaner auf die Idee kommen, Alaska an
RuÃland zurückzugeben.
28Â | Â Rotwein verstellt
den Blick
Der Killer ist da. Ich weià nicht, wie er heiÃt. Er hat
nicht einmal einen Deck- oder Kosenamen. Ein echter Geheimnistuer. Aber bitte,
das ist seine Sache. Solange er nur seinen Job zufriedenstellend erledigt, kann
er von mir aus inwendig aus Schokolade bestehen. Ich bezahle ihn, weil es
heiÃt, er würde keine Fehler machen, wenigstens keine groben.
Daà er sich ausgerechnet zu diesem Lorenz Mohn setztâ¦nun,
irgendwo muà er ja Platz nehmen. Des Buches wegen. Das Buch muà liegenbleiben.
Hernach, wenn dann alles vorbei ist, wird man dieses Buch finden. Es wird der
maÃgebliche Hinweis auf den Täter sein. Nicht den wirklichen, sondern einen
anderen, einen, der durchaus einen Decknamen besitzt und von dem alle schon mal
gehört haben. Er nennt sich der Lyriker . Hat es
folglich mit Gedichten. Was ich peinlich finde, wenn sich Auftragsmörder einen
poetischen oder irgendwie exzentrischen Anstrich verleihen. Auf genial machen,
auf künstlerisch und philosophisch. Jedenfalls weià man in
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