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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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doch immer: Alles wird gut. Das
ist wohl ihre Art, dem Leben Adieu zu sagen und sich auf den Tod zu freuen.

31  |  Alles
wird gut
    Keine Frage, für einen Neglectiker wie Lorenz Mohn war
eine von Hektik und Rasanz dominierte Situation ein Horror. Dazu die vielen
Menschen und die vielen Räume und Türen und Scheiben, diese gleichzeitig
labyrinthische wie klaustrophobe Atmosphäre. Die Dinge waren in Bewegung
geraten, was aber nicht so schlimm hätte zu sein brauchen, wäre nicht auch er
selbst – notgedrungen – in Bewegung gewesen, sodaß die linke und die rechte
Seite ständig tauschten und damit das Sichtbare mit dem Unsichtbaren.
    Nicht daß es so war, daß Mohn von einem Augenblick auf den anderen
völlig vergaß, was gerade noch geschehen war. Doch er erlebte die Vorgänge in
einem Wechsel von stark verzögerter, dann wieder stark beschleunigter Zeit. Eben
erst war ihm vorgekommen, über alles in Ruhe nachdenken zu können, während
gleich darauf das Gefühl hochkam, ihm laufe die Zeit im wahrsten Sinne davon.
Als würde er hinter der Gegenwart zurückliegen und also unfähig sein, sie
irgendwie zu beeinflussen.
    Aber die Gegenwart verhielt sich korrekt. Sie entfloh niemandem,
sondern bewegte sich im Gegenteil auf die Personen zu. Sie erfüllte ihren Plan
Punkt für Punkt. Vergangenheit und Zukunft mochten ungnädige Zicken sein, die
Gegenwart hingegen war vollkommen eins mit der Zeit, unbestechlich und
geradlinig wie eh und je. Auch wenn dem Betrachter die eine oder andere gerade
Linie als Kurve oder Spirale erscheinen mochte.
    Lorenz stürmte in den kleinen Vorraum und sah durch die
jetzt offene Türe hinüber zu Claire Montbard und ihrer Herrenrunde. Obwohl er
sich nur wenige Schritte von dem Killer entfernt befand, stand dieser nun
außerhalb seines Wahrnehmungsfeldes, wenn auch nicht außerhalb seines
Bewußtseins. Der Killer war somit in diesem Moment für Lorenz weniger eine
reale denn eine fiktive Person, wie jemand aus einem Roman. – Wie ernst kann
man Leute nehmen, die es nur im Roman gibt? Und wie ernst Pistolen, die in
solchen Romanen eine Rolle spielen? Wer fürchtet sich schon vor Büchern?
    Jedenfalls ergab sich aus dem Umstand, daß Lorenz den Killer nicht
sehen und ihn auch bloß in einer skizzenhaften Weise spüren konnte, eine
gewisse Leichtigkeit. Eben in der Art, wie man selbst bei einem spannenden Buch
die nächste Seite relativ angstfrei umblättert.
    Lorenz blätterte um. Und indem er das tat, erreichte er den Killer
genau in dem Moment, als dieser abdrückte. Wobei Lorenz weder in den Flug der
Kugel griff noch dem Clooney-Mann die Pistole aus der Hand schlug. Vielmehr
führte er seinen oft vernachlässigten linken Arm in das unsichtbare Feld und
streifte mit der ausgestreckten Hand die waffenführende Schulter des Schützen.
Was zur Folge hatte, daß das Projektil nicht in der geplanten Weise in das Herz
Claire Montbards eindrang (der Killer haßte Kopfschüsse, er war ein Mann der
Herzschüsse), sondern in die dem Herzen benachbarte Schulter. Woraus sich
wiederum eine sehr schöne und gerade Verbindungslinie zwischen der von Lorenz
Mohn touchierten Schulter des Killers und der Schulter der getroffenen Claire
Montbard ergab. – Sogar hier also: Das, was so verdreht und skurril und
zufällig anmutete, war in Wirklichkeit eine saubere Gerade, die zwei Punkte
verband.
    Und auch das, was nun aus dieser Intervention eines seine Schuld
begleichenden Neglectikers folgte, war trotz allen scheinbaren Durcheinanders
eine disziplinierte Ansammlung von perspektivischen und verbindenden Linien.
Nicht unähnlich den Kompositionsrastern, welche uns die Erhabenheit großer
Gemälde nahebringen. – Unordnung ist bloß ein Eindruck derer, welche eine Komposition
nicht verstanden haben.
    Indes gibt es freilich einfache und komplizierte Kompositionen. Im
konkreten Fall war eine als einfach geplante unversehens in eine komplizierte
umgeschlagen. Zwar nicht in der Art jener Breie, die viele Köche verderben, aber
doch im Stil eines von mehreren Malern gemalten Bildes. Man denke an das von
den Surrealisten entwickelte Prinzip des Cadavre exquis ,
bei der vier Künstler einen »köstlichen Leichnam« produzieren. Vier Künstler
also: der namenlose Killer, der halbblinde Besitzer eines Strickwarengeschäfts,
die in die Schulter getroffene Grande Dame der Wiener

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