Gewitter über Pluto: Roman
Es versteht sich geradezu,
daà man diese neuen Fossilien in China entdeckt hatte. Für die Chinesen war
alles eine Weltmeisterschaft geworden. In diesem Fall halt eine
Weltmeisterschaft im Ausgraben urtümlicher Vögel. Wenn man den Chinesen
weismachte, man habe in Europa eine prähistorische Waschmaschine entdeckt,
würden sie augenblicklich prähistorische Waschmaschinen ausbuddeln. Die
Chinesen waren verrückt nach der Welt.
Und dennoch: Der Archaeopteryx nahm schon deshalb eine
unverwechselbare Position ein, weil erstens nur zehn Skelettfunde existierten
und zudem der zweite Fund, das sogenannte Londoner Exemplar, eine
Schlüsselrolle im Wissenschaftsstreit um den Darwinismus gespielt hatte.
Obskurerweise war es ausgerechnet jener Mann gewesen, der am vehementesten
Darwins Theorien bekämpft hatte, welcher alle legalen und schlieÃlich auch
illegalen Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um das Archaeopteryxfossil in seinen
Besitz zu bekommen und die erste Beschreibung und Bewertung vorzunehmen. Der
gute Mann hatte sich gewissermaÃen den Teufel der Aufklärung ins eigene Haus
geholt und war sodann an der Wahrheit zugrunde gegangen. Eine Wahrheit, die
darin bestand, daà der Archaeopteryx als perfektes Missing link, als durch das
obere Jura hüpfende, flatternde, vielleicht kletternde, vielleicht gleitende,
vielleicht fliegende, jedenfalls mit »modernen« asymmetrischen Schwungfedern
ausgestattete taubengroÃe Kreatur eine Verbindung zwischen alten Echsen und
neuen Vögeln herstellte. Und solcherart also Darwin bestätigte.
Begonnen hatte dies alles mit einer einzelnen fossilierten Feder,
die im Steinbruch von Solnhofen entdeckt worden war und von der man auf den
Urvogel geschlossen hatte. Was ja sowohl als ein schönes Verfahren als auch als
ein nicht minder schönes Symbol gelten kann: das Detail als Ursprung allen
Wissens. Zuerst die Feder, dann der Vogel. Zuerst das Wort, dann die Welt.
Zuerst der Fehler, dann das Unglück. â Pikant an der Geschichte ist allerdings,
daà bis heute nicht geklärt werden konnte, ob diese Feder tatsächlich von einem
Archaeopteryx stammt. Was aber auch seinen Reiz hat, daà nämlich eine
möglicherweise falsche Feder auf den richtigen Vogel verweist.
Im Grunde war man schon früher einmal, nämlich 1855, auf einen
Archaeopteryx gestoÃen, doch die korrekte Zuordnung des sogenannten Haarlemer
Exemplars erfolgte erst in den neunzehnhundertsiebziger Jahren.
Ein Jahr nach der Feder entdeckte man jenes Skelett, das in der
Folge nach England »entführt« wurde, um dort auf so tragisch-vergnügliche Weise
ein Eigentor der Darwin-Gegner zu verursachen.
Daneben gab es noch das Berliner Exemplar, das Maxberger Exemplar,
das seit dem Tod seines Entdeckers als verschollen galt, ein Fossil im Besitz
des Jura-Museums in Eichstätt, weiters den besonders gut erhaltenen
Archaeopteryx bavarica in München, zudem ein Fragment, von dem weder der
Besitzer noch der Ort der Aufbewahrung bekannt waren, sowie ein wichtiges
Objekt, das sich diesmal nicht die Engländer, sondern die Amerikaner unter den
Nagel gerissen hatten. Was ja die Chinesen grundsätzlich von den Amerikanern
unterscheidet. Die Chinesen graben sich ihre eigenen Vögel aus.
Fehlten also noch zwei Exemplare. Und die befanden sich im
Bürgermeister-Müller-Museum in Solnhofen. Ein im Jahre 2004 gefundenes Fragment
und ebenjenes wunderschöne, an eine biochemische Kreatur erinnernde Fundstück,
welches auf der Karte abgebildet war, die Lorenz Mohn vom Tatort entwendet
hatte.
Tatort?
Konnte dieser Raum wirklich auch der Tatort sein? War das möglich?
Einen solchen Mord zu begehen, während er, Lorenz, geschlafen hatte?
Lorenz und Sera sahen sich noch einige Illustrationen auf
anderen Seiten an, sodann schloà Sera wieder das Fenster ihres Computers, und
man rutschte zurück in die kleine Welt des Nähzimmers. In einen Raum ohne
Wiesen.
»Wie heiÃt der Ort doch gleich, wo sie diesen Vogel ausstellen?«
fragte Lorenz, der es nicht so mit Namen hatte.
»Solnhofen«, antwortete Sera, die es sehr wohl mit Namen hatte. Wie
übrigens die meisten Frauen. Das ist ein Phänomen. Frauen müssen in ihrem Kopf
über ein groÃes Quartier für Namen verfügen. Und für Zahlen, die mit diesen
Namen in Verbindung stehen. So ist ihre Natur.
Männer wiederum neigen zum Abenteuer, selbst wenn sie eher zu den
Feigen
Weitere Kostenlose Bücher