Gewitter über Pluto: Roman
japanisches Gesicht ausmachtâ
die maskenhafte Ordnung der Züge, die Absenz des Natürlichen wie des
Vergänglichen, der Eindruck des Graphischen â, hier in gemilderter und dadurch
erst vollkommener Gestalt auftrat. So ist das ja meistens, daà die Reinformen,
selbst die schönen, etwas Aufdringliches, eigentlich Satirisches an sich haben.
Das ist am stärksten bei Dialekten und Trachten und Volksmusiken zu erkennen.
Erst in der Reduktion entfaltet sich das eigentliche Wesen. Und darum war es im
Falle Mai Hillsands so, daà das Japanische durch das Europäische temperiert
wurde, wie aber auch umgekehrt, und solcherart sich beides in karikaturloser
Reinheit dem Betrachter offenbarte.
Davon abgesehen trug sie einen schwarzen Hosenanzug, der ihrem
schlanken, jedoch äuÃerst kompakt wirkenden Körper die Eleganz einer Säule
verlieh und daran erinnerte, daà erst vor kurzem Yves Saint Laurent verstorben
war. Ihr dunkles, mit einem rötlichen Stich versehenes Haar hatte sie zu einem
seitlichen Knäuel gebunden. Sie trug keinen Schmuck. Ihr Make-up betonte
einzig, was ohnehin vorhanden war. Sie wirkte weder jung noch alt. Das waren
nicht die Kategorien, in denen sie sich bewegte, natürlich nicht.
Sie legte einen Finger auf die Kante des Konzertflügels. Das genügte
als Zeichen. Der Pianist knickte für einen Moment zusammen, als wollte er hier
ein klein biÃchen sterben, ein klein biÃchen ins Jenseits treten, bevor er
seine Finger in das Schwarz und Weià der Tasten tauchte. Und dann alsoâ¦
Schubert!
Was hätte besser passen können, als wenn die perfekte Frau die
perfekte Musik gesungen hätte? Und Schubert ist ganz sicher â und keine
Ãbertreibung wäre übertrieben genug, es auszudrücken â der Höhepunkt dessen,
was Menschen Menschen mitteilen können. Und zwar nicht, indem Schubert uns die
Welt erklärt oder die Hölle erklärt. Nicht, indem er etwas erhöht oder
irgendeine Zierde um ein Ding legt. Nein, Schubert sagt uns schlichterweise,
was wir sind: zerbrechlich. Das sind wir, es ist unser wesentlichster Zug, noch
vor dem Verstand, der Intelligenz und unserer Besessenheit nach dem
Geschlechtsleben. Pure Zerbrechlichkeit, schlimmer als jede Teetasse. Das gilt
übrigens selbst noch für Grundstücksspekulanten, Fernsehmoderatoren, Auftragskiller
und Eisenwarenhändler, sogar für Kardinäle, ja, wahrscheinlich sind Kardinäle
so zerbrechlich, wie wir uns das niemals vorstellen könnten. Und da kommt also
Schubert und zeigt uns, wie schön, wie wunderbar diese Zerbrechlichkeit, dieses
tiefe Unglück in Musik zu fassen ist. Die Rührung, die daraus entsteht, sie
gilt uns. Wir hören Schubert, und endlich mögen wir uns ein klein wenig,
endlich verstehen wir unsere Zerbrechlichkeit nicht als Defekt und heilige
Strafe. Darum brauchen wir Schubert. Eine Droge, die uns weinen läÃt. Und durch
die Tränen hindurch erkennen wir die ganze Wahrheit.
In die ersten Töne, die in leichter Benommenheit aus dem Klavier
hochstiegen, setzte nun die Stimme Mai Hillsands mit der bekannten Präzision
ein. Es war wohl gerade diese Geometrie ihres Gesangs, der verzauberte. Jemand
hatte einmal vom Artifiziellen ihrer Stimme gesprochen. Und das stimmte. Sie
sang wie eine Maschine. Aber wie eine dieser Maschinen, von denen wir annehmen,
sie werden schluÃendlich die einzigen Erdbewohner sein, die noch zu
menschlichen Gefühlen imstande sind.
Wie auch immer, es genügten wenige Sekunden, da hatte Lorenz Mohn
feuchte Augen. Ja, eigentlich hätte er laut losheulen mögen, derart stieg ein
Gefühl höchster Traurigkeit und höchster Freude in ihm hoch. Er atmete schwer.
Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die er gegen die Oberschenkel preÃte, wie
um sich selbst am Einsturz zu hindern. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges
gehört. Keine Frage, er kannte dieses Lied, das berühmte An
die Musik , auch vernahm er diese Stimme ja nicht zum ersten Mal.
Ebensowenig war es die pure Leibhaftigkeit der groÃen Sängerin, die ihn
übermannte. Er war keiner von diesen Hysterikern, die sich einen runterholten,
wenn ein Star die Bühne betrat. Und die quasi im gleichen Moment die Ohren
schlossen und sich nur noch ihrer Raserei hingaben. Man nennt das wohl
Horowitz-Syndrom. Nein, im Falle Lorenz Mohns schien es eher so zu sein, daà er
meinte, sein ganzes Leben würde hier und
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