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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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jetzt zu einem dichten Punkt zusammengepreßt
werden. Und als würde er begreifen, wie sehr alles, was geschehen war, und
alles, was noch geschehen würde, einen Traum darstellte. Zumindest so eine Art
halben Traum oder unechten Traum oder wie auch immer man diesen diffusen
Zustand definieren mochte. Und zwar im Gegensatz zur Kunst, die vollkommen im
Leben stand und als ein Teil der Natur fungierte. Was folglich bedeutete, daß
die Kunst nicht das Leben nachstellte, sondern umgekehrt. Zuerst war die Kunst
da, und dann bemühten sich die Menschen, die Kunst in ihre halben Träume zu
übertragen. Bemühten sich, Gefühle zu entwickeln, wie die Helden in Romanen und
Filmen und Opern und Comics sie empfanden. Zuerst existierte Kafkas K., und
erst ihm verdankten Menschen eine Palette von Emotionen, wie eben K. sie gelebt
hatte.
    Der angenommene Umstand, in einen halben Traum eingesperrt zu sein,
erschütterte Lorenz, so wie es ihn gleichermaßen beruhigte. Ein halber Traum
bedeutete ja, daß ein Teil des Erlebten nicht wirklich stattfand, sondern nur
ein Bild für etwas darstellte. Und es gab da einige Dinge, die ihm als Bild
sehr viel lieber waren denn als tatsächlich gelebtes Leben.
    Ob nun aber geträumt oder nicht, jedenfalls quollen die Tränen aus
Lorenz’ Augen und strömten über die Kante seiner ausgeprägten Backenknochen.
Seine senkrecht abfallenden Wangen waren rot wie von zuviel Sonne. Und selbst
die weniger empfindsamen oder esoterisch verwundbaren Charaktere in diesem Saal
registrierten ein deutliches Gewicht auf der eigenen Brust, als da Mai Hillsand
mit dem bloßen Ausdruck ihrer säulenhaft geraden Gestalt und ihres von der
Grazie ferner Raumschiffe zeugenden Augenpaars (um jetzt nicht von Mandeln oder
Muscheln zu sprechen) den sichtbaren Raum füllte und die Worte sang: Hast mich in eine bess’re Welt entrückt, in eine bess’re Welt
entrückt .
    Der Kardinal glühte.
    Du holde Kunst, ich danke dir dafür, du holde
Kunst, ich danke dir.
    Kein Applaus. Kein Muckser. Kein Husten. Lieber wäre man erstickt.
Lediglich ein Rauschen von draußen, durch die geschlossenen Fenster.
Gewissermaßen ein Haiku:
    Â 
    Abendwind
    Und drinnen im Saal
    Kein Herz, das pocht.
    Nun, das war vielleicht ein wenig zu sinnbezogen, um einen
echten Haiku abzugeben, aber wie gesagt, hier fand ja eine gegenseitige
Milderung der Pole statt.
    Nachdem sich magische Momente etwa so schwer wiederholen lassen wie
Wunder und schon gar nicht an ein und demselben Abend, gab Mai Hillsand durch
eine Geste zu verstehen, daß eigentlich alles gesagt und alles gesungen war,
was zu sagen und zu singen war, und somit der Rest der Vorstellung bloß eine
Konvention erfülle, welche ganz simpel darin bestehe, daß Konzerte über mehr
als nur ein Lied im Programm verfügten. Darum sang die Hillsand also weitere
Lieder, Bekanntes und Unbekanntes, war konzentriert und bewegend, versuchte jedoch
in keiner Sekunde an den Beginn anzuknüpfen. Der Beginn stand für sich und
würde jedermann, der kein Herz aus Stein besaß, für immer in Erinnerung
bleiben.
    Mai Hillsand gewährte eine dreiviertel Stunde, sodann verbeugte sie
sich unter dem demütigen Applaus des Publikums. Es war die einzige Verbeugung
des Abends, und darum mußte jedem einsichtig sein, daß hier das Ende war und
nichts nachkam. Der Kardinal erhob sich und ließ sich trotz seiner deutlichen
Gebrechlichkeit auf die Bühne helfen, bevor noch Mai Hillsand nach unten kommen
konnte. Vollkommen klar, daß der Kardinal lieber im Himmel weilte als auf
Erden. Er umfaßte mit seinen ausgebreiteten Händen die Unterarme der Sängerin
und hielt sie so fest, als sei es ausgerechnet an ihm, dem buckligen Alten,
dieser großgewachsenen Yves-Saint-Laurent-Frau als Stütze zu dienen. Aber so
unsinnig das war, ließ es sich Hillsand gerne gefallen.
    Die Ovation, die nun heftiger und befreiter als zuvor aufbrandete,
galt gewissermaßen der Vermählung von Kunst und Kirche. Und es war jetzt der
Kardinal, der mit einem kurzen, ernsten Blick zur Mäßigung mahnte.
    Hernach war alles beim alten: Gesellschaftstheater. Während sich
Hillsand und Seine Eminenz in einen Extraraum zurückzogen, durfte sich das Publikum
am Büffet laben. Die Kulturmenschen fielen augenblicklich in einen
steinzeitlichen Zustand zurück und waren damit beschäftigt, das beste Brötchen
zu erwischen,

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