Gewitterstille
Beschlagnahme der Dose waren inzwischen veranlasst worden.
»Wenn ich nicht nach der Dose gesucht hätte«, schimpf te Anna mit Kommissar Bendt, »hätten deine Kollegen wahrscheinlich überhaupt nichts unternommen.«
Der attraktive Kommissar saß Anna gegenüber am Küchentisch und hörte ihr geduldig zu. Er hatte Anna zu Hause aufgesucht, um sie vom Fortgang der Ermittlungen zu unterrichten. Anna war richtig erschrocken, als er plötzlich vor ihr gestanden hatte. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie die Erinnerungen mit solcher Macht überrollen würden. Sie hatte sich einen Schutzpanzer zugelegt, und es war ihr in den vergangenen zwei Jahren recht gut gelungen, die schrecklichen Erlebnisse, die sie durch die gemeinsamen Ermittlungen in dem spektakulären Frauenmordfall miteinander verbanden, zu verdrän gen. Anna war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass allein Bendts Anwesenheit ihre Erinnerungen mit einer derartigen Heftigkeit wieder hochspülen würde. Sie wollte nicht an damals zurückdenken, nicht an die Todesangst erinnert werden, die sie empfunden hatte, als sie um ein Haar selbst in einem Waldstück bei Lübeck zum Mordopfer geworden wäre. Bendt war untrennbar mit diesem Erlebnis verknüpft. Er sollte so schnell wie möglich wieder aus ihrem Alltag verschwinden.
»Ich kann nicht glauben, dass deine Kollegen es nach Eingang der Anzeige nicht einmal für nötig gehalten haben, eine Befragung der Nachbarn durchzuführen, um herauszufinden, ob irgendjemand am Morgen, an dem Frau Möbius aufgefunden wurde, oder an dem Abend zuvor etwas Verdächtiges gesehen hat.«
»Also entschuldige mal«, sagte Bendt. Der sportliche Kommissar mit den stahlblauen Augen lächelte sie an. »Seit wann haben wir genug Beamte, um nach einer einfachen Diebstahlsanzeige Nachbarschaftsbefragungen durchzuführen? Dein Einsatz in der Sache war toll und überraschend erfolgreich, du musst aber wohl zugeben, dass so etwas kaum zu erwarten war. Außerdem haben die Kollegen Petra Kesslers Anzeige wahrscheinlich nicht ernst genommen. Du weißt doch genau, dass Erben ständig Dinge aus dem Nachlass vermissen und Anzeigen erstatten, obwohl die Sachen schon Monate vorher verschenkt, weggeworfen oder verkauft worden sind.«
»Es ging hier aber nicht um irgendetwas, sondern um eine sehr wertvolle alte Dose«, protestierte Anna und fuhr sich durch ihre störrischen Locken.
Sie spürte selbst, dass sie übereifrig auf Bendt wirken musste. Wahrscheinlich fand er es befremdlich, dass sie bisher kaum ein persönliches Wort mit ihm gewechselt hatte. Vielleicht hielt er sie sogar für gefühllos oder undankbar. Immerhin war er es gewesen, der sie im Wald gefunden und ihr vielleicht sogar das Leben gerettet hatte.
»Theoretisch hätte Jens Asmus oder jemand anders die Münzen und die Dose auch schon Wochen vor ihrem Tod entwendet haben können«, sagte Bendt.
»Das ist doch vollkommen unwahrscheinlich.« Anna hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und all die Fragen, die ihr durch den Kopf schossen, zu verdrängen. Was wollte er wirklich hier? Ging es ihm um den Fall Möbius, oder wollte er sie einfach nur wiedersehen? Damals hätte sich vielleicht etwas zwischen ihnen entwickeln können, wenn sie nicht mit Emily schwanger geworden wäre. Aber dieses Kapitel war nun endgültig abgeschlossen.
»Frau Möbius hat mir erzählt, dass sie die Dose in ihrem Schlafzimmer stehen hatte. Ältere Damen achten auf ihre Dinge. Außerdem war ihr das Stück unglaublich wichtig und wertvoll. Natürlich hätte sie bemerkt, wenn die Dose plötzlich nicht mehr an ihrem Platz gewesen wäre.«
»Mag sein, vielleicht aber auch nicht. Weißt du genug von dieser Frau, um das so sicher behaupten zu können?«
Anna holte kaum Luft, während sie auf ihn einredete. Sie betete, dass er nicht von damals anfangen würde. Die Tatsache, dass sie sich nie jemandem anvertraut hatte und die wahren Umstände um Oberstaatsanwalt Tiedemanns Tod bis zum heutigen Tag geheim hielt, lastete plötzlich wieder schwer auf ihrem Gewissen. Dennoch glaubte sie nach wie vor, das Richtige getan zu haben. Sie wollte nur die Fragen klären, die heute zu klären waren, und hoffte, Bendt würde so schnell wie möglich wieder aus ihrer Küche und ihrem neuen Leben verschwinden.
Er öffnete den Mund und schien etwas sagen zu wollen, aber Anna kam ihm zuvor.
»Ich habe heute mit einer Nachbarin gesprochen«, sagte sie. »Von ihrem Haus aus kann man den Garten und die Terrasse von Frau
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