Gewitterstille
Möbius einsehen. Sie hat mir erzählt, dass Frau Möbius elektrische Fensterheber für ihre Außenjalousien hatte.«
»Ja und?«, fragte Bendt irritiert.
»Die Jalousien gingen jeden Tag um Punkt 08.30 Uhr hoch.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
»Jens Asmus hat Frau Möbius jeden Morgen um 07.30 Uhr aufgesucht. Wenn sie an diesem Morgen bereits tot war und folglich auf sein Klingeln hin die Haustür nicht öffnete, dann konnte er doch gar nicht über die Terrasse ins Haus gelangen, die Tote finden und sich entschließen, sie zu bestehlen.«
»Verstehe. Selbst wenn die Terrassentür offen stand, so waren doch in jedem Fall die Rollläden noch geschlossen. Wenn deine Vermutung richtig ist, dann hat Frau Möbius ihn an dem Morgen wahrscheinlich selbst ins Haus gelassen …«
»Es sei denn, er ist an diesem Morgen erst nach 08.30 Uhr bei ihr gewesen.«
»Das wäre natürlich auch möglich. Wie kannst du aber sicher sein, dass die Jalousien abends tatsächlich runtergelassen wurden? Vielleicht hat sie die Rollläden ja genauso offen gelassen wie die Terrassentür.«
»Wie viele ältere Damen kennst du, die nachts ihre Türen sperrangelweit offen lassen? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Ich frage mich eher, ob Jens Asmus sie nicht vielleicht nur bestohlen, sondern auch umgebracht hat.«
Ein Geräusch aus Richtung der Küchentür ließ Anna aufhorchen. Erst jetzt bemerkte sie Sophie, die dort blass und regungslos in ihrem Rollstuhl saß und sie mit aufgerissenen Augen anstarrte.
13. Kapitel
E s kostete Petra Kessler einige Überwindung, den Keller und den Dachboden zu durchstöbern. Der Keller war immerhin etwas kühler und bewahrte sie davor, ständig den Geruch ihres eigenen Schweißes ertragen zu müssen. Petra empfand jedoch tiefen Ekel vor all dem Staub und Dreck, der sich hier im Laufe der Jahre hinter altem Zeug angesammelt hatte. Immer wieder gab sie dem Drang nach, in das WC im Erdgeschoss zurückzukehren, um ihre Hände und Unterarme gründlich einzuseifen. Sie schrubbte mit dem Bimsstein über die bereits rot angeschwollene Haut und beobachtete das schaumige Wasser, das träge im Ausguss des rosafarbenen Beckens abfloss. Sie ließ sich Zeit für ihr Säuberungsritual, wenngleich es nutzlos schien. Denn was sie abzuwaschen imstande war, das war nur der oberflächliche Staub, nicht der wie Pech an ihr haftende Schmerz, den die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit mit sich brachte. Kaum etwas schien in diesem Haus verändert zu sein. Wie sehr sie das in den Siebzigerjahren renovierte WC mit seinen grell türkisfarbenen Fliesen hasste. Es war hässlich und unvollkommen, wie sie selbst es einst gewesen war. Es war eine Qual, den Nachlass ihrer Mutter zu sichten, verbargen sich doch in jedem Raum die Dämonen ihrer Vergangenheit, die ihr auflauerten und ihre Ängste nährten. Aber sie zwang sich zu bleiben. Sie musste finden, wonach sie seit Tagen so verzweifelt gesucht hatte. Irgendwo musste ihre Mutter die Papiere aufbewahrt haben, die es unbedingt zu vernichten galt.
Der Inhalt mancher Kartons war harmlos: alte Küchengeräte, Radios und Tischwäsche, alles Dinge, mit denen sie nichts verband. Der Inhalt anderer Kisten hingegen traf sie wie ein Schlag in den Magen, trieb kalten Schweiß auf ihre Stirn und ließ sie würgen. Es waren insbesondere Fotos und andere persönliche Gegenstände, die in ihr Gefühle wachriefen, die sie bisher so erfolgreich verdrängt hatte. Auf den Bildern, die Petra im Alter von etwa zehn bis fünfzehn zeigten, schien rein äußerlich eine Fremde abgebildet zu sein. Nichts in ihrem Gesicht erinnerte heute mehr an das pummelige Mädchen von einst mit der pickeligen Knubbelnase, den Pausbacken und der dicken Brille. Petra wog mit ihren eins sechzig noch nicht einmal fünfzig Kilo. Ihre Nase war dank der schon vor Jahren vorgenommenen Korrektur klein, schmal und spitz, ihre Wangenknochen waren aufgespritzt und die Fältchen auf der Stirn und um die Augen mittels Botox geglättet. Petra hasste das Mädchen, das sie auf den Bildern sah. Sie hasste es dafür, dass es sie mit ihren eigenen Augen ansah, die aus diesem unvollkommenen Gesicht hervorstachen. Ihr altes Ich ekelte sie an, wie der stinkende tote Frosch, den sie unter dem Becken in der Waschküche gefunden hatte. Er hatte sich dort in der Schmutzwäsche ihrer Mutter verfangen und war qualvoll verendet. Der widerlichen Kreatur war eine der typischen spießigen Kittelschürzen zum Verhängnis
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