Gewitterstille
Möbius wird uns ihren Teil der Geschichte wohl kaum mehr erzählen können.«
Anna stand auf. Sie wusste, es war zwecklos, weiter auf Sophie einzudringen.
»Wenn du mit mir reden willst, bin ich da, hörst du? Ich bitte dich nur inständig, nichts Unüberlegtes zu tun.«
34. Kapitel
E s gab Momente, in denen Anna sich zusammenreißen musste, um nicht zu vergessen, aus welchem Grund sie sich in Südfrankreich aufhielt. Der Tag war wunderschön gewesen. Sie waren alle gemeinsam mit Andrés Wagen nach Saint-Paul-de-Vence gefahren. Die Stadt besaß mit ihrer Stadtmauer, der wunderschönen Kirche, den zahl reichen malerischen Gassen und den lauschigen Plätzen alle Attribute, die ein südfranzösisches Städtchen zu einem Bilderbuchdorf machen. Sie waren über den Markt geschlen dert und hatten in einem kleinen Bistro zu Mittag gegessen. Anna hatte sich schon lange nicht mehr so frei und wohl gefühlt. Es tat ihr gut, einmal ohne Emily unterwegs zu sein. Sie hatte Sophie und Beate beobachtet und war froh darüber, dass sich zwischen beiden zarte Bande zu entwickeln schienen. Ihr gegenüber blieb Sophie allerdings auch an die sem Tag wieder gänzlich verschlossen und abweisend, und nach dem Abendessen zog sie sich erneut sehr früh in ihr Zimmer zurück. Anna entschied, eine Dusche zu nehmen und im Anschluss noch einmal bei Sophie zu klopfen, bevor sie zu Bett ging. Sie drehte den Hahn auf und genoss das kühle prasselnde Wasser auf ihrer Haut, bevor sie sich in ihr Handtuch hüllte und auf ihr Bett setzte. Ihr Handy zeigte einen Anruf von Georg an, und sie rief ihn sofort zurück.
»Hallo, Georg«, begrüßte sie ihn.
»Hallo, wo warst du? Ich habe versucht, dich zu erreichen.«
»Ich komme gerade aus der Dusche.«
»Verlockende Vorstellung.«
Anna schob das Handtuch, das sie sich um den Körper geschlungen hatte, einem Reflex folgend etwas höher und beschloss, nicht auf seine Bemerkung einzugehen.
»Ist bei euch alles in Ordnung? Was macht Emily?«, fragte sie stattdessen.
»Emily geht es gut. Ich merke zwar, dass sie dich vermisst, aber sie gibt sich angesichts der einen oder anderen Extraportion Schokoladeneis mit mir zufrieden.«
Anna musste lachen und ließ sich von Georg berichten, was er tagsüber mit Emily unternommen hatte.
»Und was hast du so den ganzen Tag in Frankreich getrieben?«
»Ich habe mehrfach versucht, mit Sophie zu reden, aber sie will ganz offenbar nicht mit mir über Jens Asmus sprechen.«
»Weiß man inzwischen, wo er sich aufhält?«
»Ja, das hatte ich dir noch gar nicht erzählt. Man vermutet ihn ganz hier in der Nähe. Kurz vor meiner Abreise hierher hat man seine Spur aufnehmen können.« Die Stille am anderen Ende der Leitung sagte Anna, dass Georg sich Sorgen um sie machte. »Das ist auch der Grund, weshalb ich doch in polizeilicher Begleitung geflogen bin.«
Georg holte am anderen Ende der Leitung vernehmlich Luft.
»Verstehe. Es ist gut zu wissen, dass jemand auf dich aufpasst.«
Anna fröstelte plötzlich in ihrem Handtuch.
»Übermorgen sind wir wieder zu Hause.«
»Das ist gut. Ich freu mich auf dich.« Georgs Stimme klang plötzlich sehr sanft.
»Ich freu mich auch auf zu Hause. Gute Nacht, Georg.«
Anna legte auf, ließ das Handtuch auf ihrem Bett liegen und streifte sich ihre Unterwäsche über. Sie setzte sich an den kleinen antiken Schminktisch in ihrem Zimmer und fing ihren eigenen Blick im Spiegel auf, während sie sich Gesicht und Dekolleté eincremte.
Worauf wartete sie eigentlich? Die Luft, die durch das offene Fenster zu ihr hereinwehte, roch nach Sommer und Rosen. Anna überkam ein Gefühl, das sie seit Langem nicht empfunden hatte, die Sehnsucht nach Liebe. Warum nicht Georg? Emily war das Beste, was ihr im Leben je widerfahren war, und sie verdankte sie Georg, dem Mann, der immer für sie da war. Was also hielt sie davon ab, ihm endlich eine Chance zu geben?
35. Kapitel
J ens Asmus schlich durch den hinteren Garten und fragte sich, wie viele Personen sich wohl gegenwärtig im Haus aufhielten. Im oberen Stockwerk brannte vereinzelt noch Licht. Es war ihm nicht möglich gewesen, das Haus bei Tageslicht zu beobachten, da das Gelände zu einsichtig war und er sich dem Gebäude deshalb nicht unbe merkt nähern konnte. Im Schutz der Akazienbäume schlich er die Auffahrt entlang und zuckte zusammen, als er mit dem Fuß auf einen Ast trat, der im Weg lag. Sein Nervenkostüm wurde von Tag zu Tag dünner. Er hatte die letzten beiden Nächte auf
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