Gezeiten der Liebe
offiziell zur Familie gehörte.
Gedankenverloren schaukelte er vor und zurück und horchte auf die ersten Rufe der Nachtvögel. Dann mußte er plötzlich eingenickt sein, denn er hatte wieder einen Traum.
»Du warst schon immer ein Einzelgänger«, sagte Ray. Er saß seitlich auf dem Geländer der Veranda, den Blick aufs Wasser gerichtet. Seine Haarmähne glänzte im Dämmerlicht wie gesponnenes Silber und wehte in der leichten Brise. »Du hast dich immer gern abgesondert, um in Ruhe deinen Gedanken nachzuhängen und so eine Lösung für deine Probleme zu finden.«
»Dabei wußte ich aber, daß ich mich jederzeit an dich und Mom wenden konnte. Ich wollte nur vorher mit mir ins reine kommen.«
»Und wie steht’s jetzt?« Ray drehte sich um und schaute Ethan unverwandt an.
»Ich weiß nicht. Seth gewöhnt sich allmählich an sein neues Zuhause. Er geht schon viel lockerer mit uns um. In den ersten Wochen war ich immer darauf vorbereitet, daß er ausreißt. Daß wir dich verloren haben, war für ihn genauso ein Schock wie für uns. Oder vielleicht sogar noch schlimmer, weil er gerade anfing, sich hier sicher zu fühlen.«
»Es war ganz übel, was er ertragen mußte, bevor ich ihn hierher brachte. Aber nicht so schlimm wie das, was du durchmachen mußtest, Ethan, und du hast es trotzdem geschafft.«
»Es stand oft genug auf der Kippe.« Ethan holte eine Zigarre heraus und ließ sich Zeit mit dem Anzünden. »Manchmal überwältigt es mich immer noch – der Schmerz und die Scham. Die lähmende Angst, genau zu wissen, was geschehen wird, und es doch nicht verhindern zu können.« Er tat die Erinnerung mit einem Achselzucken ab. »Seth ist jünger, als ich es damals war. Ich glaube, einen Teil des Vorgefallenen hat er bereits vergessen. Aber das funktioniert nur, solange er sich von seiner Mutter fernhalten kann.«
»Irgendwann wird er sich mit ihr auseinandersetzen müssen. Aber dann wird er nicht allein sein. Das ist der Unterschied. Ihr werdet ihm alle zur Seite stehen. Ihr habt euch immer gegenseitig unterstützt.« Ray lächelte, und sein breites, großflächiges Gesicht war übersät von kleinen Fältchen. »Was treibst du eigentlich hier draußen allein an einem Samstag abend, Ethan? Ich muß schon sagen, Junge, du machst mir wirklich Sorgen.«
»Ich habe einen langen Tag hinter mir.«
»Als ich in deinem Alter war, habe ich an lange Tage noch längere Nächte angehängt. Mein Gott, du bist ganze dreißig Jahre jung! An einem warmen Samstagabend im Juni auf der Veranda zu hocken und Däumchen zu drehen, ist was für alte Tattergreise. Na los, schwing dich in dein Auto und mach eine Spazierfahrt. Mal sehen, wo du landest.« Er zwinkerte ihm zu. »Ich wette, wir wissen beide, wohin es dich verschlagen wird . . .«
Plötzliche Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr, begleitet von markerschütternden Schreien, ließen Ethan in seinem Stuhl auffahren. Er blinzelte und starrte benommen
auf das Geländer. Dort war niemand ... Natürlich war dort niemand, wies er sich zurecht und schüttelte unwillig den Kopf. Er war kurz eingenickt, das war alles, und die Geräusche des Films, der im Wohnzimmer lief, hatten ihn geweckt.
Doch als er nach unten blickte, entdeckte er die brennende Zigarre in seiner Hand. Verblüfft starrte er sie an. Hatte er sie tatsächlich im Schlaf aus der Tasche geholt und angezündet? Unmöglich. Er mußte erst danach eingedöst sein. Es war eine eingefleischte Gewohnheit, deshalb hatte er nicht bewußt wahrgenommen, was er tat.
Aber wieso war er eingeschlafen, wenn er kein bißchen müde war? Im Gegenteil, er war hellwach, unruhig, geradezu rastlos.
Er erhob sich, massierte seinen Nacken und marschierte auf der Veranda auf und ab, um sich die Beine zu vertreten. Ach, er sollte einfach reingehen und es sich mit Popcorn und einem Bier vor dem Fernseher gemütlich machen. Na schön ... Er hatte die Hand schon nach der Fliegentür ausgestreckt, als er plötzlich innehielt und eine Verwünschung ausstieß.
Nein, er war ganz und gar nicht in der Stimmung für das Samstagabend-Filmfestival. Statt dessen würde er eine Zeitlang mit dem Auto herumfahren – mal sehen, wohin es ihn verschlug.
Grace’ Füße waren völlig taub, wie abgestorben. Schuld waren diese mörderischen Stöckelschuhe, die zu ihrer Kellnerinnenkluft gehörten. An Wochentagen, wenn man sie hin und wieder ausziehen und sich ein paar Minuten hinsetzen konnte, war es nicht ganz so schlimm. Aber samstags abends
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