Gezeiten der Sehnsucht - Feehan, C: Gezeiten der Sehnsucht - Dangerous Tides (4 - Libby)
hat mir erzählt, Tysons Eltern würden ihn nicht verstehen und es sei ihnen peinlich, dass er so ein Eigenbrötler ist. Sie waren Jetsetter und Schickimickis. Er aber wollte in ein Mikroskop starren und über Dinge reden – wie Killerviren –, an die sie nicht mal denken wollten. Sie sind vor ein paar Jahren gestorben und haben ihm ein Vermögen hinterlassen. Ich glaube nicht, dass er es angerührt hat, aber es heißt, Sam könnte sich leisten, was er will. Ich vermute also, dass Tyson das Geld mit ihm geteilt hat.«
»Wie seltsam, dass ich davon nichts wusste«, sagte Libby. »Ich weiß alles über sein Studium und woran er seither gearbeitet hat, aber ich habe mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, warum er bei Ida Chapman gelebt hat. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihn geliebt hat, und daher schien es mir ganz natürlich zu sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann unmöglich mit ihm ausgehen.«
»Libby, stell dich unter die Dusche. Du hast es verdient, deinen Spaß zu haben.«
Libby schnitt eine Grimasse. »Ich bin nicht sicher, ob es mir tatsächlich Spaß machen wird, mit ihm auszugehen.«
»Das sind alles nur Ausflüchte. Während du duschst, finde ich etwas zum Anziehen für dich. Ihr geht doch nur miteinander essen, oder?«
»Ich kann ihm nur raten, mich nicht mit seinem Motorrad abzuholen.«
»Libby!« Hannah gab ihr einen kleinen Schubs. »Er kann jeden Moment hier sein und dann wirst du wirklich in Panik geraten. Was soll ich tun, wenn er kommt, während du duschst?«
»Schick ihn um Himmels willen nicht zu mir rauf. Beschäftige ihn.«
»Mit Küssen?«, fragte Hannah schelmisch.
»Dann erschießt Jonas ihn. Das solltest du besser bleiben lassen.« Libby presste sich eine Hand auf den Magen, als sie
sich Tyson mit Hannah vorstellte. »Warum musst du bloß so schön sein?«
Hannah zuckte zusammen. »In Wirklichkeit bin ich es doch gar nicht«, sagte sie. »Die Männer rennen nicht gerade die Tür ein, um mit mir auszugehen.«
Libby drehte sich um und sah gerade noch den verletzten Ausdruck auf Hannahs Gesicht. »Tut mir Leid, Schätzchen. Ich habe es nicht böse gemeint.«
Hannah rang sich ein kleines Lächeln ab. »Ich reagiere im Moment überempfindlich. Greg hat mich gefragt, ob die Möglichkeit einer Brustverkleinerung bestünde. Ich bin schon auf Größe 36 abgemagert, aber anscheinend hat sich jemand darüber beklagt, dass meine Brüste zu groß sind.«
»Hannah, du bist einen Meter achtzig groß. Du bist intelligent genug, um selbst zu wissen, dass Greg ein Idiot ist, wenn er will, dass du noch mehr abmagerst. Du kannst froh sein, dass du bei deiner schmalen Figur überhaupt Brüste hast.«
»Ich weiß. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich im Moment eine Spur verunsichert bin. Nimm das bloß nicht zu ernst.«
»Und ob ich es ernst nehme, wenn du dich selbst nicht mehr magst.«
»Ich sollte jetzt besser gehen und meinen Posten an der Tür beziehen, für den Fall, dass dein Verehrer kommt«, sagte Hannah.
Libby stellte das Wasser so heiß, dass es gerade noch auszuhalten war. Während sie unter der Dusche stand, machte sie sich Gedanken darüber, wie sie ihrer jüngeren Schwester helfen könnte. Hannah wirkte immer so fröhlich. Sie war liebevoll und herzensgut und hatte stets Zeit für ihre Schwestern. Sie schloss nicht leicht Freundschaften, sondern blieb lieber für sich, und sie schien es zufrieden zu sein, die Zeiten zwischen ihren Aufträgen im Haus ihrer Familie in Sea Haven zu verbringen. Libby wäre nie auf den Gedanken gekommen, Hannah
könnte unglücklich sein. Warum war ihr das nicht aufgefallen? War sie derart von ihrem eigenen Leben in Anspruch genommen, dass sie den Gewichtsverlust ihrer Schwester übersehen hatte? Und ihre Traurigkeit? Sie hätte ihr Unglück wahrnehmen müssen. Jonas Harrington hatte noch vor Libby erkannt, dass Hannah in Schwierigkeiten steckte.
Sie wusch sich die Haare und dachte darüber nach, wie sie Hannah am besten helfen konnte. Gab sie vor, glücklich zu sein, weil sie das Gefühl hatte, ihren Schwestern ohnehin schon zur Last zu fallen? Sie unterstützten sie mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass sie es alle längst ganz automatisch taten. Keine von ihnen dachte sich etwas dabei, aber vielleicht war es Hannah jedes Mal wieder bewusst. Machte ihr das Gefühl zu schaffen, dass sie ihre Schwestern brauchte, um vor einem Publikum aufzutreten und ihren Job zu bewältigen? In Anbetracht ihrer Persönlichkeit war das
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