Gezeiten der Sehnsucht - Feehan, C: Gezeiten der Sehnsucht - Dangerous Tides (4 - Libby)
stoßen. Elle wirbelte in die Richtung herum, aus der die Kugel gekommen war, und riss ihre Hände in die Luft. Über ihnen ließen elektrische Entladungen den Himmel knistern und auf der anderen Straßenseite schlug unter den Klippen Wasser mit enormer Gewalt gegen die Felsen.
Jonas hustete und rang nach Atem. Er wusste, dass er ihnen entglitten wäre und schnell den Punkt erreicht hätte, an dem es nicht einmal mehr in der Macht der Drakes stand, ihn zurückzuholen, wenn Elle ihn nicht festgehalten hätte. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, denn seine Finger waren zu schwach, um den Griff noch länger zu halten. Verzweifelt blickte er zu Hannah auf.
»Elle! Elle, wir verlieren ihn«, rief Hannah aus und kauerte sich schützend über Jonas. »Hilf uns.«
Elle zögerte einen Moment, denn sie bangte um das Leben ihrer Schwestern, doch dem Ruf, Jonas zu retten, konnte sie sich nicht widersetzen. Sie wandte sich ihm wieder zu.
Ein Wagen vom Büro des Sheriffs hielt mit kreischenden Bremsen an und schirmte den Kreis der Drakes gegen die Straße ab. Jackson sprang mit gezogener Waffe, unbeweglicher Miene und eiskalten Augen heraus. »Verstärkung ist unterwegs, Elle. Kümmert ihr euch um Jonas.«
Zwei weitere Polizeifahrzeuge trafen ein, eines von Fort Bragg und eines von der Highway Patrol. Sie setzten ihre Fahrzeuge als Barrikade ein, um Jonas Deckung vor dem Schützen zu geben. Offenbar beschloss der Schütze, vor dieser zahlenmä-ßigen Übermacht zu kapitulieren, denn er gab keine weiteren Schüsse ab. Weitere Beamte trafen ein und fächerten sich zu einem Suchtrupp auf.
Die Bewohner der Kleinstädte an der Küste besaßen fast alle einen Piepser und würden sofort kommen, um zu sehen, ob sie helfen konnten. Viele von ihnen zählten zu den Reservekräften des Sheriffs oder der Feuerwehr und halfen sich gegenseitig aus, wenn so gut wie jede andere Hilfe weit weg war. Jonas war beliebt, und sowie sich herumsprach, dass er angeschossen worden war, würden sie schleunigst und in großer Zahl hier erscheinen.
Jackson bahnte sich einen Weg in den Kreis und kniete sich neben Jonas. Alles war voller Blut. Hannahs Kleidung war mit
Blut getränkt, um den Sheriff herum sickerte Blut in den Boden, und die Felsbrocken hinter ihm waren damit besprüht.
»Könnt ihr ihn retten?«, fragte Jackson unverblümt. Sein Gesichtsausdruck war verbittert.
Libby hielt ihre Hände zwei bis drei Zentimeter über den Körper des Sheriffs und schloss die Augen, um seine Verletzungen zu ertasten, sie zu lokalisieren und sich ein klareres Bild von ihrer Schwere zu machen, als eine Röntgenaufnahme es ermöglicht hätte. Sie schluckte schwer. Vier Kugeln waren in seinen Körper eingedrungen, hatten Organe beschädigt und sich durch Venen und eine Hauptschlagader geschnitten. Der Schlagader musste sie sich sofort zuwenden, denn sonst war es mit Sicherheit um ihn geschehen. Ein Lungenflügel war kollabiert.
Die inneren Verletzungen waren schwerwiegend. Es würde sehr hart werden. Den schlimmsten und zugleich auch den gefährlichsten Schaden hatte die Lungenarterie abgekriegt. Schon jetzt füllte sich die Lunge mit Blut, und Jonas drohte zu ersticken. Wenn Libby darauf wartete, dass ihn ein Krankenwagen ins Krankenhaus brachte, würde es zu spät sein. Es war ausgeschlossen, dass sie das Blutgefäß schnell genug flicken konnte, um Jonas zu retten – der Schaden war zu groß.
»Hannah und Elle, ihr werdet mir sofort helfen müssen.« Hannah und Elle besaßen beide gewisse Heilkräfte, die ohne Libbys Kraft nicht allzu viel nutzten, doch jetzt brauchte sie die beiden zu ihrer Unterstützung. »Jackson, sorg dafür, dass niemand in unsere Nähe kommt, aber sag den Sanitätern, dass Jonas Blut brauchen wird, wenn wir mit ihm fertig sind. Unmengen von Blut.«
»Es könnte ziemlich haarig werden«, warnte Elle. »Wir sind hier nicht in Sea Haven und viele Leute aus den umliegenden Kleinstädten kennen zwar Jonas, uns jedoch nicht.«
»Macht euch an die Arbeit. Niemand wird euch belästigen«, versprach ihnen Jackson.
Libby konnte die Verzweiflung ihrer Schwestern wahrnehmen – aber auch die der umstehenden Personen, die aus allen Richtungen herbeiströmten. Einige von ihnen weinten schon. Die Menschenmenge wuchs ständig, und sie erhaschte einen Blick auf Tyson, der gerade eintraf und mit ungeheuer grimmiger Miene wild entschlossen auf sie zukam. Schnell schloss sie die Augen, holte tief Atem und richtete ihre gesamte Konzentration, ihr
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