Gezeiten der Sehnsucht - Feehan, C: Gezeiten der Sehnsucht - Dangerous Tides (4 - Libby)
wahrscheinlich nie erfahren, Liebling. Du bist übermüdet, und du brauchst Schlaf.«
»Ich wollte ihn nicht allein lassen, aber ich musste dringend nach Hause. Kate und Abbey haben gesagt, sie würden sich um ihn kümmern«, wiederholte Hannah. Sie wirkte hilflos und verloren.
Joley tauschte einen langen Blick mit Libby aus. »Es ist vollkommen richtig, dass du nach Hause gekommen bist. Du warst über eine Woche im Krankenhaus. Du musst etwas für dich selbst tun, denn sonst kannst du nichts für Jonas tun. Komm in die Küche, die Suppe wartet schon.« Sie zog an Hannah, bis ihre Schwester aufstand. Erst in dem Moment fiel ihr auf, dass Libby geschminkt war. »Du kannst noch nicht zur Arbeit gehen, Libby. Du brauchst noch mindestens eine Woche Erholung.«
Libby versuchte, sich ungezwungen zu geben. »Ich gehe nicht zur Arbeit, ich mache nur einen Spaziergang. Ich dachte mir, vielleicht gehe ich in die Stadt und schaue auf ein Schwätzchen mit Inez in den Lebensmittelladen. Ich brauche frische Luft.«
Joley schnaubte. »Das Lügen musst du erst noch lernen, große Schwester. Du bist total rot geworden.«
Hannah musterte die leuchtende Röte, die in Libbys Wangen kroch. »Du triffst dich mit ihm, stimmt’s, Libby? Tyson Derrick, der Mann, dem du das brandneue Muttermal auf deinem Hals zu verdanken hast.«
»Ich kann es kaum erwarten, es Mom zu erzählen«, sagte Joley.
Ein kleines Lächeln huschte über Libbys Gesicht. »Vielleicht hält sie mich dann endlich für ein böses Mädchen«, sagte sie hoffnungsvoll. »Was meint ihr?«
»Tut mir Leid, Schätzchen, aber daraus wird nichts, solange ich im Haus bin.« Joley lächelte gewinnend. »Mom muss zwangsläufig mindestens eines der Klatschblätter gelesen haben, und ich glaube, im Moment habe ich eine Dreiecksbeziehung. « Plötzlich strahlte sie erfreut. »Vielleicht ist es aber auch ein flotter Dreier.«
»Joley.« Hannah rümpfte die Nase. »Igitt.«
»Na ja, ich meine, es wäre doch nett, wenn mein Leben in echt so aufregend wäre wie in der Phantasie anderer Leute.«
»Ich glaube, Libbys Leben wird gerade aufregend«, sagte Hannah.
»Wenn dieser scharfe Typ, der so gut küssen kann, hier rumhängt, wird es zweifellos heiß hergehen, aber ich dachte, Sarah hätte versucht, ihn zu verscheuchen.«
»Er lässt sich nicht allzu leicht verscheuchen«, sagte Libby und freute sich insgeheim darüber, dass er sich von ihrer Familie nicht einschüchtern ließ. Es überraschte sie, wie sehr sie darauf erpicht war, Tyson zu sehen. Sie hatte die ganze Nacht an ihn gedacht und sogar beschlossen, ihm zu sagen, sie würde nicht mit ihm ausgehen, doch diese Entschlossenheit war im Lauf des Vormittags geschwunden. Lange Zeit hatte sie dagesessen und das aufgewühlte Meer und die schäumenden Wellen beobachtet, während sie über Tyson Derrick nachdachte. Je länger sie das tat, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass er sie brauchte.
»Umso besser«, sagte Joley beifällig. »Du brauchst einen starken Mann.«
»Ich? Ihn brauchen? Es ist das genaue Gegenteil. Er analysiert Gefühle, aber er hat entweder keine, oder wenn er doch etwas für andere Menschen empfindet, dann erkennt er es nicht. Er hat sich restlos aus der Welt zurückgezogen. Und die Extremsportarten, mit denen er seine Freizeit ausfüllt, sollen dazu dienen, dass er sich lebendig fühlt. Er will sich auf niemanden einlassen.«
»Mit einer Ausnahme – und das bist du.«
Libby errötete wieder. Wenn er sie ansah, stand in seinen Augen unverkennbares Verlangen. Nackte Gier. Sehnsucht. Physischer und psychischer Notstand, alles miteinander. Als Reaktion darauf regte sich alles in ihrem Innern zugleich. »Im Grunde genommen haben wir viele Gemeinsamkeiten, obwohl
Sarah nicht dieser Meinung ist. Wir sind beide ruhig und regen uns so schnell über nichts auf, aber ich muss sagen, mir ist aufgefallen, dass ich in seiner Gegenwart anders reagiere als sonst. Er hat den Dreh raus, mir wie niemand sonst auf die Nerven zu gehen, und ich scheine es fertig zu bringen, dass er aufbraust, was eigentlich ganz untypisch für ihn ist. Für seinen Verstand kann ich mich grenzenlos begeistern.«
Libby fiel auf, dass ihre Schwestern einander ansahen. »Doch, ganz im Ernst. Ich kann es nicht ändern. Er ist ein Genie und kann mit mir über die Themen reden, die mich wirklich reizen. Aber gegenüber anderen Menschen und seinen eigenen Gefühlen grenzt er sich ab. Er hatte eine fürchterliche Kindheit. Ich glaube, er
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