Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gezeiten des Krieges

Gezeiten des Krieges

Titel: Gezeiten des Krieges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Loren Coleman
Vom Netzwerk:
zumindest, genügend Zeit ließ, sein Verhältnis zu Mai Uhn Wa zu klären. Es stand immer noch sehr viel zwischen ihnen, Gutes wie Schlechtes. Einer von ihnen musste nachgeben. Seit er von Mais Plänen für eine Neugründung von Haus Ijori gehört hatte, wusste Evan, wer das sein musste. Und möglicherweise besaß er, was Mai brauchte, um sein Ziel zu erreichen.
    Oder genauer gesagt, der Liao-Kult.
    An einem anderen Fenster, auf der anderen Seite Yilings und des Vorortgürtels um Chang-an, standen zwei andere Menschen an einem Fenster. Sie schauten hinaus auf die Verzweiflung und die Wut, die von der Hauptstadt Besitz ergriffen hatte - und in geringerem Maße auch von ganz Liao.
    Anna Lu Pohls Residenz beanspruchte den gesamten zweiten Stock im Ostflügel des Gouverneurspalastes. Sie verfügte über Räume für jede Gelegenheit, von privaten Mahlzeiten und ungezwungenen Gesprächen bis zu Banketten und Bällen. In ihrem Büro lagen Teppiche im persischen Stil auf Hartholzboden, dort stand ein Schreibtisch aus Goldteak und eine wandhohe Vitrine mit einer Jadesammlung, die dem liaotischen Volk gehörte, aber im Gouverneursbüro ausgestellt war. Hinter Keramikscheiten brannte im Kamin ein Gasfeuer und wärmte den Raum.
    Nach einem Zwanzig-Stunden-Arbeitstag hatte die
    Gouverneurin ihre Schuhe in eine Ecke gefeuert und die Amtsrobe geöffnet. Darunter trug sie einen eleganten, aber bequemen Hosenanzug, der inzwischen allerdings ziemlich zerknittert war. Unter den Achseln war der Stoff dunkel verfärbt.
    »Was für eine Art, das neue Jahr zu begrüßen«, bemerkte sie zu Gerald Tsung, als weiteres Feuerwerk am Nachthimmel zerplatzte. Sie hob das Glas, trank den Rest Pflaumenwein und stellte es dann auf das Fensterbrett.
    Tsung blickte weiter hinaus über die zwei Stockwerke hohe Mauer, auf die Straßen Chang-ans. Gouverneurin Lu Pohl ließ ihn stehen. Sie hatte genug gesehen. Die Aufstände kamen nicht zur Ruhe. Aufstände. Mehrzahl. Chang-an war keine homogene Stadt. Chang-an, das war ein abgetrennter Palast und einige Forumsgebäude. Chang-an war ein ländlicher Bereich im Osten, wo Bauernhöfe im Familienbesitz mit Kombinaten konkurrierten, und dahinter der Vorort Erisa. Chang-an war Yiling und Sua, und das Gahn-Industriegebiet, in dem die Brände inzwischen unter Kontrolle waren, auch wenn da sechzig Prozent der Fabriken nur noch als ausgebrannte Ruinen standen. Chang-an war der Militärkomplex bei Lianyun-gang, war das Juwel Beilus, war die Stimme Liaos.
    Und Chang-an lag im Sterben.
    »Keine Nachrichten aus Hunnan oder Thei?«, fragte sie nach Meldungen aus den beiden nächstgroßen Städten des Nordkontinents.
    »Mandrinn Klein hat keine Truppen auf Ihre Bitte hin in Marsch gesetzt. Lordgouverneur Hidi? hat ebenfalls Befehle an Mandrissa Erin Ji geschickt, und sie weigerte sich, Folge zu leisten, bis >die konkurrierenden Gouverneure Liaos sich einigem.« Er spulte den Text völlig neutral ab, ohne eine eigene Meinung oder irgendein Gefühl durchscheinen zu lassen.
    »Und was meinen Sie?«
    »Klein hat Angst. Erin Ji, da bin ich mir sicher, hat sich mit dem Liao-Kult verbündet. Sie war noch nie sehr zuverlässig.«
    Anna ging am Schreibtisch vorbei zu einer roten Samtcouch und legte sich auf die weichen Polster. Sämtliche Distriktadligen zeigten sich stur und abweisend. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, dass der Wahnsinn von Chang-an auf ihre Städte übergriff
    - jedenfalls nicht mehr, als es jetzt schon der Fall war. Also waren Qinghai und die Provinzen der Umgebung auf sich gestellt.
    »Vielleicht haben sie Recht«, dachte sie laut.
    »Sie haben Recht, Gouverneurin«, stellte Tsung knapp fest, als erkläre das alles. »Sie haben kein Recht, sich zu weigern.«
    »Vielen Dank, Gerald. Wir wollen hoffen, dass sie das ebenfalls erkennen, und zwar schnell.« Sie entließ ihn mit einem dünnen Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Ich werde heute Nacht nicht schlafen. Kommen Sie wieder, sobald Sie Neuigkeiten haben.« Ihr Adjutant verließ unter Verbeugungen den Raum und ließ sie mit ihren Gedanken allein zurück.
    Und diese Gedanken galten wieder der Möglichkeit, dass ihre adligen Untergebenen Recht hatten. Der Adel stützte seine Autorität auf das Volk, ganz ähnlich wie sie. Ohne Land, ohne die Gefolgschaft der Menschen, die es bearbeiteten, war Adel so viel wert wie jemand, der sich an einer Straßenecke auf eine Obstkiste stellte und Reden hielt.
    Was wollte das Volk wirklich? Was war das Beste

Weitere Kostenlose Bücher