Gezeitengrab (German Edition)
der eigene Name steht.
«Archie? Sie haben Besuch.»
Archie Whitcliffe empfängt sie an der Tür seines Zimmerchens, als wäre er Jack Hastings höchstpersönlich. Er sieht seinem Enkel geradezu erschreckend ähnlich. Superintendent Gerald Whitcliffe ist groß und dunkelhaarig und bildet sich einiges auf seine Haare und seine Anzüge ein. Auch Archie Whitcliffe ist groß, obwohl er schon ein wenig gebückt geht, und hat makellos frisiertes silbergraues Haar. Er trägt zwar keinen Anzug, aber Wolljacke und Hose sind frisch gebügelt, und er hat eine Krawatte umgebunden, die allem Anschein nach zu einem Regiment gehört.
Sein Händedruck ist herzlich. «Sie arbeiten also für Gerald?»
Das entspricht zwar nicht ganz Nelsons Sicht der Dinge, trotzdem nickt er. «Ja. Ich bin Detective Chief Inspector Harry Nelson, und das ist Detective Sergeant Judy Johnson.»
Archie mustert Judy augenzwinkernd. «Was für ein Zungenbrecher. Darf ich Sie einfach Judy nennen?»
Judy lächelt zurück. «Aber natürlich.» Es gibt schließlich keinen Grund, den alten Knaben irgendwie zu kränken.
Im Zimmer stehen nur ein schmales Bett, ein Tisch mit einem Fernseher darauf, ein Lehnsessel und ein Bücherregal. Neben dem unvermeidlichen Norfolk-Druck hängen etliche gerahmte Familienfotos an der Wand. Judy reckt den Hals, um den halbwüchsigen Whitcliffe genauer zu betrachten.
«Hier», sagt Archie zuvorkommend. «Das ist Gerald bei seiner Abschlussparade.»
Judy betrachtet den frisch examinierten Polizisten, wie er salutiert, der Nacken rot gescheuert von der neuen Uniformmütze. Er sieht aus wie zwölf.
«Er hat sich ja ganz schön gemacht seither», sagt sie. «Sie sind sicher sehr stolz auf ihn.»
«Natürlich. Ich bin auf alle meine Enkel stolz.»
«Wie viele haben Sie denn?»
«Zehn. Gerald ist der älteste.»
Heiliger Bimbam, denkt Nelson. Diese Whitcliffes vermehren sich wie die Karnickel. Da kann’s mit Norfolk ja nur bergab gehen.
Archie setzt sich auf den Stuhl vor dem Tisch und bedeutet Nelson, im Lehnsessel Platz zu nehmen. Judy setzt sich auf das Bett.
«Mr. Whitcliffe», sagt Nelson. «Superintendent Whitcliffe, also, Gerald, hat Ihnen ja sicher schon von den Skeletten erzählt, die in Broughton Sea’s End gefunden wurden …»
«Hat er.»
Darauf hätte ich auch was verwettet, denkt Nelson. Obwohl es sich um eine vertrauliche Polizeiangelegenheit handelt.
«Wir glauben, dass es sich um die Skelette einiger Männer handelt, die vermutlich vor mindestens vierzig und längstens siebzig Jahren zu Tode gekommen sind. Das schließt natürlich die Kriegsjahre mit ein. Ich hatte mich gefragt, ob Sie sich als Mitglied der Home Guard vielleicht noch an irgendeinen Vorfall in Broughton Sea’s End erinnern.»
Archie schweigt lange. Irgendwo auf dem Gang spielt jemand Klavier, und eine dünne Stimme singt dazu: «If You Were the Only Girl in the World».
«Sie waren doch in der Home Guard», versucht Nelson es erneut.
«Ja.» Archie strafft sich sichtlich auf seinem Stuhl. «Anfangs nannte man uns noch die Local Defence Volunteers. Zu Beginn des Krieges war ich noch zu jung, um mich freiwillig fürs Militär zu melden. Aber später habe ich das natürlich getan. Ich war bei den Panzertruppen.» Er deutet auf seine Krawatte.
«Es waren auch noch ein paar andere junge Männer dabei, nicht wahr?» Nelson wirft einen Blick auf seine Notizen. «Hugh und … äh … Danny.»
«Ja.»
Nelson überlegt, ob er sich das nur einbildet oder ob Archie jetzt tatsächlich etwas angespannter wirkt. Er mustert Nelson freundlich, ein unaufgeregtes Lächeln auf den Lippen. Aber die Anspannung sitzt in seinem Körper, der vollkommen reglos bleibt. Ein bisschen zu reglos vielleicht?
«Haben Sie noch Kontakt zu Hugh und Danny? Wissen Sie, ob die beiden noch leben?»
«Vor ein paar Jahren hatte ich Briefverkehr mit Hugh. Seither habe ich aber nichts mehr von ihm gehört.»
«Haben Sie vielleicht eine Anschrift?»
«Nein, tut mir leid.» Archie macht sich nicht einmal die Mühe nachzusehen. Er blickt Nelson nur mit ausdruckslosen blauen Augen an.
«Oder einen Nachnamen?»
«Ich fürchte, daran erinnere ich mich nicht mehr.»
Nelson sieht Judy an, die sich vorbeugt und fragt: «Und was ist mit Danny?»
«Den habe ich seit dem Krieg nicht mehr gesehen, Liebes. Und bis Sie ihn gerade erwähnt haben, hatte ich ihn auch ganz vergessen.»
Nelson ändert die Taktik. «Erzählen Sie uns etwas über den Captain Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher