Gezeitengrab (German Edition)
paar Kissen lehnt, und hält ihr hin und wieder ein kunterbuntes Spielzeug hin, was Kate jedoch geflissentlich ignoriert, um stattdessen an der Fernbedienung zu lutschen. Tatjana hat das Baby noch keines Blickes gewürdigt.
Nelson ist schon nach wenigen Minuten verschwunden – doch Tatjana reicht das vollauf, um ihn «interessant» zu finden. Ihr höchstes Lob, wie Ruth bald feststellt.
«Wieso hast du denn am helllichten Nachmittag Besuch von einem Polizisten?», erkundigt sich Tatjana mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. Ruth hofft inständig, dass sie nicht rot wird.
«Ich bin beratend für die Polizei tätig», sagt sie und gibt sich Mühe, eine ernste Ermittlermiene aufzusetzen. «Manchmal helfe ich auch bei konkreten Ermittlungen. Forensische Analysen, Knochen, Datierungen und so weiter.»
«Gibt es in Norfolk denn viel zu ermitteln?», fragt Tatjana, immer noch belustigt.
«Du würdest dich wundern», antwortet Ruth. Langsam muss sie Kate sich selbst überlassen und mit dem Abendessen anfangen. Da sie nicht viel mehr im Kühlschrank hat als zwei Hühnerbrüste und eine altersschwache Tomate – Einkaufen stand erst für morgen auf dem Plan –, sind die Möglichkeiten äußerst begrenzt. Sie wird das Ganze Hähnchen Cacciatore nennen und das Beste hoffen. Immerhin hat Tatjana Wein aus dem Duty-free-Shop mitgebracht. Das Dumme ist nur, dass Ruth Kate nicht einfach allein lassen kann und Tatjana nicht bitten möchte, auf sie aufzupassen. Schließlich setzt sie die Kleine in ihren Kindersitz und nimmt sie mit in die Küche. Lieber Himmel, es gab Zeiten, da konnte sie aus dem Haus gehen, wann immer sie wollte – jetzt wird sogar der Gang ins Nebenzimmer zur Herausforderung.
Tatjana kommt ihr nach und erzählt weiter von der Arlington-Springs-Frau. Ruth versucht, gleichzeitig zuzuhören, zu kochen und Kate zu unterhalten. Doch Kate fühlt sich schon bald vernachlässigt, und ihr Cheerleader-Quieken wächst sich zu einem lautstarken Brüllen aus. Ruth nimmt sie auf den Arm, wippt mit ihr auf und ab und macht gleichzeitig in einem kleineren Topf etwas Milch für ihr Fläschchen warm. Tatjana lehnt mit dem Weinglas in der Hand in der Tür und schaut zu.
Als Ruth sich wieder hinsetzt, Kate nebst Fläschchen auf dem Schoß, fragt Tatjana mit wissenschaftlicher Neugier in der Stimme: «Was ist eigentlich mit Kates Vater? Kümmert er sich auch?»
«Er ist verheiratet», antwortet Ruth knapp.
«Das ist sicher schwer.»
«Es geht.» Ruth legt Kate etwas bequemer in ihrer Armbeuge zurecht. «Ich möchte gar nicht verheiratet sein. Ich lebe gern allein hier.»
«Mit Kate.»
«Ja. Mit Kate. Und mit Flint.»
Flint hat eine sehr viel herzlichere Begrüßung bekommen als Kate. Tatjana hat sich gebückt, ihn unterm Kinn gekrault und ihm erzählt, was für hübsche Schnurrhaare er habe. Flint seinerseits straft sie mit Verachtung, wie er das immer macht, wenn Gäste sich für Katzenfreunde halten. Wenn allerdings Nelson da ist, der Hunde lieber mag, ist Flint kaum noch zu bremsen, springt ihm bei jeder Gelegenheit auf den Schoß und verteilt großzügig Haare auf seiner Hose.
«Aber es ist doch sicher oft einsam hier», sagt Tatjana. «Hast du Nachbarn?»
«Das Haus nebenan steht leer. Und das auf der anderen Seite ist ein Ferienhaus. Die Besitzer kommen nur im Sommer für ein, zwei Wochen.»
«Und deine Arbeit an der Universität? Macht sie dir Spaß?» Vielleicht ist Tatjana ja aufgefallen, dass Ruth zu den Archäologiegeschichten bisher nicht viel beigetragen hat.
«Insgesamt schon. Ich mag meine Studenten. Und ich unterrichte gern. Aber ich war schon länger auf keiner spannenden Ausgrabung mehr. Zuletzt vor einem Jahr hier im Salzmoor, mit Erik.»
«Ich kann immer noch nicht fassen, dass Erik tot ist», sagt Tatjana. «Wie ist das denn passiert? Ich dachte immer, er ist unsterblich.»
«Er ist hier im Moor umgekommen», sagt Ruth. «Es war dunkel, die Flut kam. Er ist ertrunken.» Hoffentlich will Tatjana keine Einzelheiten hören: Ruth würde den Abend am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen.
«Mein Gott!» Tatjana schweigt eine Zeitlang. Kate fallen die Augen zu, der Sauger des Fläschchens rutscht ihr aus dem Mund, und ein bisschen Milch rinnt Ruth auf den Arm.
«Ruth.» Tatjanas Stimme klingt gequält. «Dein Ärmel!»
«Das macht nichts», sagt Ruth. «Sie schläft schon fast. Ich bringe sie gleich ins Bett.» Sie spürt, wie Kate in ihrem Arm immer schwerer und schwerer wird. Es ist sechs
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