Gezinkt
WPIJ News. Könnten Sie etwas zu der Behauptung sagen, dass Sie wissentlich einen Unschuldigen...«
»Nein.« Klick.
Es läutete erneut.
»Hallo?«
»Ich bin Reporter der New York Times ...«
Klick.
»Ja?«
»Ist dort dieser gottverdammte Rechtsverdreher? Wenn ich Sie finde, dann...«
Klick.
Lescroix steckte das Telefon aus, stand auf und lief im Zimmer hin und her. Keine Panik. Es ist alles nicht so schlimm. In ein paar Tagen würde die ganze Sache vergessen sein. Es war nicht seine Schuld. Er war verpflichtet, einen Klienten so gut es ging zu vertreten. Doch noch während er sich gut zuredete, sah er sich im Geiste vor der Ethikkommission der Anwaltskammer, sah sich die Angelegenheit seinen Klienten, Golfpartnern und Freundinnen erklären …
Pilsett. Was für ein unfassbarer Narr. Er …
Lescroix erstarrte. Auf dem Bildschirm war ein Mann in den Fünfzigern zu sehen. Unrasiert. Verknittertes weißes Hemd. Ein unsichtbarer Interviewer fragte ihn nach seiner Reaktion auf den Urteilsspruch im Fall Pilsett. Was jedoch Lescroix’ Aufmerksamkeit gefesselt hatte, war die eingeblendete Zeile am unteren Rand des Bildschirms: James Pilsett. Onkel des freigesprochenen Verdächtigen.
Das war nicht der Mann, der ihn engagiert hatte, der vor einer Stunde hier im Zimmer gewesen war, um das Honorar abzuliefern.
»Wissense«, nuschelte der Mann, »Jerry war immer’n Problem. Hat nie gemacht, was er sollte. Hat sich jede einzelne Ohrfeige verdient, die er gekriegt hat. Also, dass sie ihn heut ham laufen lassen... das versteh ich überhaupt nich. Kommt mir nich richtig vor.«
Lescroix eilte zum Schreibtisch und öffnete das Kuvert. Es enthielt die volle restliche Summe. Aber kein Scheck, sondern in bar, wie schon der Vorschuss. Es gab keinen Zettel, nichts mit einem Namen darauf.
Wer zum Teufel war dieser Mann?
Er steckte das Telefon wieder ein und rief im Skyview Motel an.
Es läutete und läutete.
Endlich meldete sich jemand. »Hallo?«
»Jerry, hier ist Lescroix. Hören Sie...«
»Tut mir leid«, sagte die Stimme des Mannes. »Jerry kann im Moment nicht ans Telefon kommen.«
»Wer spricht da?«
Eine Pause.
»Hallo, Anwalt?«
»Wer sind Sie?«, fragte Lescroix.
Am anderen Ende hörte er leises Lachen. »Erkennen Sie mich nicht? Und das nach unserem langen Gespräch vor Gericht heute Morgen. Ich bin enttäuscht.«
Cabot! Es war Charles Cabot.
Wie war er in Jerrys Motelzimmer gekommen? Lescroix war der Einzige, der wusste, wo sich der Mann versteckt hielt.
»Sie sind verwirrt, Anwalt?«
Aber nein, fiel Lescroix ein, er war nicht der Einzige, der es wusste. Er hatte dem Mann, der sich als Jerrys Onkel ausgab, vom Skyview erzählt. »Wer war das?«, flüsterte Lescroix. »Wer war der Mann, der mich bezahlt hat?«
»Kommen Sie nicht drauf?«
»Nein.«
Aber im selben Moment, in dem er es sagte, begriff er. Lescroix schloss die Augen. Setzte sich aufs Bett. »Ihr Schwiegervater.«
Der reiche Geschäftsmann. Patricias Vater.
Ich glaube fest daran, dass die Familie zusammenhalten sollte ...
»Er hat mich engagiert?«
»Wir beide«, sagte Cabot.
»Um den Mörder Ihrer Frau zu verteidigen? Wieso?«
Cabot seufzte. »Was glauben Sie, Anwalt?«
Langsam, wie Eis auf einem Teich im November, formten sich Lescroix’ Gedanken. »Weil es in diesem Bundesstaat keine Todesstrafe gibt.«
»Richtig, Anwalt. Vielleicht wäre Jerry lebenslänglich ins Gefängnis gewandert, aber das reichte uns nicht.«
Und Cabot und sein Schwiegervater konnten nur an Pilsett herankommen, wenn sie dafür sorgten, dass er freigesprochen wurde. Deshalb engagierten sie den besten Strafverteidiger im Land.
Lescroix lachte angewidert. In Wirklichkeit hatte Cabot vor Gericht also mit ihm gespielt. Hatte schuldbewusst getan, nie erklärt, was er hätte erklären können, sich bei Lescroix’ weit hergeholten Andeutungen gekrümmt.
Plötzlich fielen ihm Cabots Worte ein: Jerry kann im Moment nicht ans Telefon kommen ...
»O mein Gott, werden Sie ihn töten?«
»Jerry? Na, im Augenblick besuchen wir ihn nur«, sagte Cabot. »Wir drei sitzen nett zusammen. Aber ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass Jerry leider sehr depressiv ist. Ich mache mir Sorgen, er könnte sich etwas antun. Er hat sogar damit gedroht, sich aufzuhängen. Das wäre ein Jammer. Aber natürlich ist das jedermanns freie Entscheidung. Wie käme ich dazu, mich einzumischen?«
»Ich sage es der Polizei.«
»Ach ja? Ich denke, das könnten Sie wohl tun. Aber dann
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