Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
sich ja nicht allzu nahe zu kommen. Sie geht aber auch extra zu Fuß nach Hause, um sich auszulüften.
Eigene Kinder hat sie nicht; eine kluge Entscheidung, wie sie findet. Was sie aber nicht daran hindert, ausgesprochen nett zu unseren Schülern zu sein. Allerdings ist Madame Kaltermann unglaublich nachtragend. Mein Fuat hat es sich mit ihr bis zum Jüngsten Gericht verscherzt, weil er «Faltenkopf» zu ihr gesagt hat. Fies, ich weiß, aber ich könnte mich darüber jetzt noch vor Lachen wegschmeißen. Zu seinem Glück hat er es nicht zu mir gesagt.
In den großen Pausen telefoniert Frau Kaltermann verdächtig häufig mit dem Apotheker ihres Vertrauens. Sie hat auf dem pharmazeutischen Marktsegment immer etwas nachzufragen, zu bestellen, zu regeln, abzuholen. Frau Herz und ich, die wir unauffällig das Lehrerzimmer überwachen, glauben an eine Affäre mit dem Pillendreher und vermuten, das ganze Gequatsche über Tröpfchen und Zäpfchen ist eine erotische Geheimsprache.
Im Gegensatz zu uns Kaffeetrinkern schwört Frau Kaltermann auf Tee als Pausengetränk. Das Schlimmste für sie ist, wenn ihr jemand den letzten Teebeutel klaut – was schon hin und wieder passiert ist. Ich würde nicht mal unter Folter zugeben, wer das war. Dazu knabbert sie bevorzugt kleine Apfel- und Möhrenschnitze, denn sie achtet sehr auf ihre elfenhafte Figur.
Übergewichtige Schüler stellt sie im Bio-Unterricht gnadenlos auf die Waage und preist ihnen die Vorteile einer fett- und zuckerarmen Ernährung. Ich glaube, diese Kinder müssen sie hassen. Ich zittere schon vor dem Tag, an dem sie beschließt, die Kolleginnen regelmäßig zu wiegen.
In den Ferien fährt Frau Kaltermann immer mit ihrem Zahnklempner oder einem Hausfreund (?) weg; sie bevorzugt ferne Länder und sehr teure Hotels. Es wird aber langsam eng, weil sie schon fast alle durchhat. Ich überlege, ob ich sie demnächst mal zum Zelten mitnehmen soll …
Ach, Frau Kaltermann, es ist schön, dass wir dich haben. Wenigstens du bringst etwas Glanz in unser abgewracktes Lehrerzimmer.
Fegefeuer oder Vorhölle?
Die Sommerferien erscheinen zuerst so lang, so lang. Man hat das Gefühl, man müsse nie mehr in die Schule, und vergisst alles, was damit zu tun hat. Man trödelt ein bisschen herum, geht abends lange aus, isst zu viel, schläft bis in die Puppen, trifft Freunde und Verwandte, fährt weg, trinkt jeden Abend Rotwein, kommt zurück, und die Schule liegt immer noch in weiter Ferne.
Aber es ist wie so oft im Leben, die Zeit, die sich in den ersten Wochen dehnte wie ein ausgekauter Kaugummi, schnurrt gegen Ende der Ferien zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft herausgelassen wird.
Der Countdown läuft. Noch ein letztes Wochenende, dann beginnt die Schule wieder. Der Stundenplan trifft per E-Mail ein, und ich beschließe, ihn so hinzunehmen wie das Wetter; man kann eh nichts ändern. Die erste Konferenz haben wir schon hinter uns und auch ein sehr nettes Frühstück mit einigen Kollegen. Erkan hat seine Prüfung gemacht – durchgefallen –, und auf meinem Schreibtisch stapeln sich neue Ordner, Prospekthüllen und Stifte.
Es kann losgehen.
Prompt habe ich auch heute einen Schüler aus meiner Klasse gesehen, das heißt einen ehemaligen Schüler, hoffe ich. Turgut. Aus dem Auto heraus konnte ich ihn beobachten. Er ging mit einem Kumpel bei Knallrot über eine ziemlich belebte Straße. Beide spazierten schön langsam, pah, sollen die Autos doch warten.
Als ich ihn so über die Straße schlendern sah, breitbeinig und arrogant, kaugummikauend und mit einem albernen Käppi, das extrem schräg auf seinem gegelten Haar schwebte, wurde ich total sauer. Sein Verhalten am letzten Schultag fiel mir wieder ein. Während Kollege Karl und ich nach der Zeugnisausgabe noch damit beschäftigt waren, mit einigen (zugegebenermaßen wenigen) Schülern zu sprechen und uns zu verabschieden, ging Turgut, ohne uns eines Blickes zu würdigen, raus. Ich rief ihm noch nach, aber er grinste nur blöde zurück, zuckte mit den Schultern und verschwand. Ich fand das echt daneben. Zwei Jahre hatten wir miteinander gearbeitet und gekämpft. Ich weiß nicht, wie oft ich mit ihm gesprochen und wie oft ich immer wieder versucht habe, so etwas wie eine tragfähige Beziehung zu ihm aufzubauen. Aber über diese Brücke konnte er nicht gehen. Zu cool, zu unsicher, zu verquer, zu schlechte Manieren und vor allem zu gekränkt. Denn in der Schule war er nicht der geile Checker, für den er sich hielt.
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