Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Schlafstörungen, nervöses Zucken des linken Augenlids. Der Kalender blieb verschwunden. Die Zeit verrann …
Ich begann von Noten zu träumen.
Manche konnte ich nachvollziehen, soweit mir Arbeitshefte und Bilder vorlagen. Andere musste ich schätzen. Ich traute mich nicht, Fünfen zu geben. Alle kamen in diesem Schuljahr bei den Zeugnissen zu gut weg. Die Schüler freuten sich.
Einen Tag nach der Zeugnisausgabe fand ich in meinem Briefkasten zwischen Rechnungen, Werbung und der Zeitung ein kleines Päckchen. Ich drehte es hin und her. Es war in meiner Stadt aufgegeben worden, ein Absender fehlte.
Ja! Es war mein Lehrerkalender. Sonst nichts. Kein Brief, keine Erklärung. Ich will heute noch nicht glauben, dass das meine Schüler gewesen sein könnten.
Finito
«Na, Frl. Krise, vielleicht bist du ja auch Schuld an dem Fiasko», sagt meine Freundin Frau Freitag – schöne Freundin! – und schiebt sich grinsend ein Stück Käsekuchen in den Mund. «Vielleicht hast du ihnen ja nicht richtig erklärt, wie so ein Praktikum funktioniert.» Eben habe ich ihr erzählt, dass das Praktikum in den anderen neunten Klassen unserer Schule relativ reibungslos vonstattengeht.
Gerade machen wir unsere allfreitägliche kleine After-Work-Party in einem Straßencafé. Wir sitzen in der Sonne, trinken Cola light, und ich bin schlecht gelaunt. Frau Freitag meint das humoristisch, ich weiß, und ich würde bestimmt auch so reden, wenn es um ihre Schüler ginge …
Frau Freitag und ich, wir räsonieren immer wieder über das Desinteresse unserer Schüler an ihrer beruflichen Zukunft, und wir fragen uns, ob es wohl ohne unser permanentes Anschubsen und Drängeln anders – vielleicht sogar besser – liefe.
Bei manchen ja, bei anderen nein, entscheiden wir salomonisch. Aber wenn man jahrelang mit Kindern arbeitet, entwickelt man eine Beziehung zu ihnen. Das ist pädagogisch gewollt und gut so. Und auch wenn diese Beziehung störanfällig und wackelig ist, sie ist da. Sie macht, dass man sich verantwortlich fühlt und immer wieder die Initiative ergreift.
Fuat regt mich ja meistens auf, aber manchmal guckt er mich so dackelmäßig treu an, dass ich für einen Moment den liebenswerten Kerl sehe, der er bestimmt mal war und der er sein könnte, wenn er unter anderen Bedingungen groß geworden wäre – und der er, wenn er erwachsen ist, vielleicht wieder sein wird. Aber ob er jemals einen Beruf haben wird? Das hängt von vielen Faktoren ab, nicht nur von der Schule, selbst wenn wir das gern glauben.
Meine Erfahrung ist, dass sich unsere schulentlassenen Schüler jahrelang sehrsehrsehr schwertun. Sie taumeln erst einmal bloß von einer Schule beziehungsweise Maßnahme zur nächsten. Wenn man sie ein, zwei Jahre nach der Schulentlassung auf der Straße trifft, sehen sie zwar hollywood aus, hören sich aber so an:
Yasin, euphorisch: «Frl. Krise! Ich mach Fachabi!»
Ich, erstaunt: «Donnerwetter! Das hätte ich nicht gedacht. Super, Yasin!»
Yasin, betrübt: «Aber ich hab Probezeit nicht bestanden!»
Wenn Maßnahme auf Maßnahme folgt und kein berufliches Weiterkommen in Sicht ist, wird das Leben auch manchmal richtig schwer:
Alican, der seit drei Jahren eine Ausbildungsstelle sucht: «Frl. Krise, ich fühle mich wie siebzig. Ich sitze den ganzen Tag zu Hause. Mein Herz tut weh, was soll ich nur machen?»
Natürlich fielen mir gleich alle seine Sünden ein: Er kam immer zu spät, machte keine Hausaufgaben, schlief gemütlich im Unterricht … Inzwischen hat er eine Kochlehre angefangen.
Im zarten Alter von etwa zwanzig haben sich dann alle so einigermaßen in eine berufliche Existenz reingefrickelt. Bäckerei, Obststand, Handyladen, Putzen. Doll ist das nicht, aber man lebt. Die Mädchen bleiben allerdings beruflich oft auf der Strecke. Wenn der Jobeinstieg nicht sofort klappt, heiraten sie überstürzt den Cousin aus der Türkei oder dem Libanon (oder sie werden verheiratet) und sind schneller schwanger, als man es für möglich hält. Und die nachgeborenen Kinderlein? Die werde ich nicht mehr unterrichten!
Bloß … Ich frag mich schon die ganze Zeit: Wenn ich das alles weiß und schon tausendmal erlebt habe, weshalb reg ich mich so auf, wenn diese Kinder aus meiner Klasse das mit dem Praktikum nicht hinkriegen?
Azzize ist heute rausgeflogen. Der Fotoladenbesitzer, ein freundlicher, netter Mann, hat mich angerufen. Donnerstag war sie da, heute fehlte sie wieder unentschuldigt. Zwei Tage Anwesenheit, drei Tage
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