Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
familiären Stand zu erheben.
«Was ist los mit Gürkan?», frage ich Aynur in der Hofpause.
«Wieso?» Aynur ist so vorsichtig, dass ich gleich weiß, da ist was im Busch.
«Na, er ist so anders … Guck mal, er sitzt wieder dahinten und bläst Trübsal.»
«Was bläst er?» Aynur kriegt sich nicht mehr ein.
«Mensch, Aynur! Hör mal auf mit dem Scheiß! Sag mal lieber … Wegen Gürkan …!»
«Ja, also!» Aynur kommt sich wichtig vor. Sie nähert sich mir und flüstert: «Seine Eltern haben sich gescheidet. Sein Vater ist weggezogen.»
«Geschieden meinst du. Und deshalb …»
Aynur nickt. «Er will lieber bei sein Vater bleiben. Aber das geht natürlich nicht.»
«Wieso natürlich?»
«Na, sein Vater ! Und außerdem hat der jetzt keine Wohnung, nur Zimmer bei sein Bruder.»
Nach der Schule erzähle ich alles Frau Herz. Die hat Gürkan in Englisch und beschwerte sich erst gestern bei der Klassenlehrerin, dass Gürkan so abgebaut habe.
«Aha», sagt Frau Herz. «Soll die Frau mal froh sein, dass die den los ist, dieser Mann war doch ein schrecklicher Kerl.» Frau Herz ist immer so entsetzlich pragmatisch.
«Aber der arme Gürkan …» Ich versuche es noch einmal. «Der hängt so an seinem Vater!»
«In meiner Klasse sind fast alle geschieden», behauptet Frau Herz. «Merkst du was, Frl. Krise?»
Ich schüttele den Kopf. Muss Frau Herz nach einem anstrengenden Tag unbedingt in Rätseln mit mir sprechen? Wo wir gleich noch eine Konferenz bis mindestens halb sieben haben.
«Die Türken!», sagt Frau Herz. «Ist nix mehr mit heiler Großfamilie und so. Die lassen sich jetzt auch alle scheiden. Das nenne ich mal Integration.»
«In meiner Klasse aber nicht», widerspreche ich, «da ist nur eine türkische Familie geschieden. Und die beiden deutschen Familien, natürlich.»
«Ja, deine Klasse», sagt Frau Herz und grinst gemein. «Bei deinen Schülern kann man ja mal sehen, was so eine intakte Familie wert ist.»
Dabei waren sie alle heute ganz besonders liebreizend. Aber das konnte Frau Herz ja nicht wissen.
Frau Herz
Kollegin Herz ist eine Seele von Mensch, aber nicht immer ganz kompatibel mit normalen bildungsbürgerlichen Höflichkeitsanforderungen. Meinen morgendlichen Gruß erwidert sie nur selten.
Warum auch?
«Wir sehen uns doch jeden Tag», sagt sie ungerührt und schiebt mir einen Kaffee rüber. Taten, nicht Worte! Das ist ihr Motto.
Sie ist die Klassenlehrerin meiner Parallelklasse, und wir beide arbeiten nicht nur eng zusammen, sondern sitzen auch so im Lehrerzimmer nebeneinander. Frau Herz ist zwar schlank, aber enorm raumgreifend; ich muss zwischen uns kleine Mauern aus Büchern und Ordnern bauen, sonst würde ihr Arbeitsmaterial eines Tages meinen Platz überwuchern.
Frau Herz ist eine lupenreine Pragmatikerin, und sentimentale oder gar romantische Anwandlungen liegen ihr fern. Trotzdem hat sie immer das Wohl aller im Blick. Sie sammelt das Geld für Grillfeste ein, nimmt freiwillig Schüler meiner Klasse mit auf ihre Klassenfahrt und versorgt die Kollegen fürsorglich mit frischem Obst und Nüssen. Ohne Frau Herz würde ich regelmäßig in der Schule kollabieren.
In einem anderen Leben hat Frau Herz im Gesundheitswesen gearbeitet, was ihren Wortschatz nachhaltig geprägt hat.
«Alles Patienten!», ruft sie unnachsichtig und weist auf die Neuntklässler hin, die sich auf dem Hof mit Eicheln bewerfen. Schulakten bezeichnet sie als «Kurven», und das plötzliche Erscheinen unseres Chefs, Herrn Fischer, im Klassenzimmer ist in ihren Augen eine «Visite».
Die Berichte gewisser Kollegen, die euphorisch von plötzlichen großartigen pädagogischen Durchbrüchen berichten, kommentiert Frau Herz trocken mit einem herzlichen «In der Schule wird fast so viel gelogen wie auf dem Friedhof!».
Wegen ihrer klaren Ansagen wird sie von ihren Schülern geliebt und gefürchtet.
Die Jungen der neunten Klassen haben Sport auf dem Bolzplatz.
«Mensch», sagt Frau Herz zu mir, «guck dir das an, diese Jungen! Die sind nur die ganze Zeit dabei, sich ihrer Männlichkeit zu versichern.»
Das hat sie aber schön ausgedrückt! Eigentlich haben sie aber bloß andauernd eine Hand in der Sporthose. Muss man das machen? Gerät da beim Spielen irgendetwas durcheinander?
Da! Ein Ball rollt aus dem Spielfeld genau vor unsere Füße, und Sadi trabt herbei, um ihn zurückzuschießen – und natürlich gräbt er dabei mit einer Hand in den Tiefen seines Gemächtes.
«Na, Sadi?», fragt Frau Herz
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