Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
die auch völlig überdreht sind. Einige haben sich sogar mit dünnen Zweigen bewaffnet und peitschen heftig um sich herum. Ihre ganzen gemeinschaftlichen Körperlichkeiten entladen sich in einem wilden gegenseitigen Schubsen, Balgen, Schlagen und Boxen.
Ich habe keine Aufsicht, will bloß mal kurz über den Hof in ein anderes Lehrerzimmer laufen und werde Zeuge dieser geradezu hemmungslosen Szene. Die Mittagspause ist für die anderen schon vorbei, nur meine Klasse ist draußen. Die Schüler hatten bis jetzt Unterricht.
Frau Schneider, die Aufsicht führt, sitzt leicht verhärmt auf einer Bank, blickt stumm in der Gegend herum und sagt bitterlich zu mir: «Guck dir das an, deine Schüler! Schlimmer als die Siebtklässler!»
Ich flüchte. Nach der Pause, in der achten und neunten Stunde, habe ich noch Unterricht bei denen. Das kann ja heiter werden.
Ich gehe schon ein bisschen früher in den vierten Stock hoch, damit in dem kleinen Flur vor unserer Tür nichts passiert. So aufgewühlt wie die sind, ist mit einigem zu rechnen. Aber außer mir ist sowieso niemand oben.
Dann fällt mir etwas ins Auge: Auf der zartgrünen Wand neben der Tür prangen mehrere knallrote Lippenabdrücke. Da hat jemand mindestens ein halbes Dutzend Mal inbrünstig den unebenen Putz geküsst. Jetzt schlägt’s ja wohl dreizehn!
Die Sonne scheint in den Klassenraum, es sieht ziemlich unordentlich aus, aber es ist noch gerade erträglich. Ich putze gemütlich die Tafel, genieße eine Minute die Ruhe, und dann bricht es über mich herein. Schreiend wälzt sich der Mob in die Klasse. Alle weisen mir gleichzeitig empört blaue Flecken vor, an Armen, Beinen, Rücken, dicke, fette Hämatome. Aber die können nicht nur von dieser Pause sein. Nein, das ging wohl schon den ganzen Tag so!
Da alle ziemlich gleichmäßig gefleckt sind, sehe ich keinen Grund zu irgendwelchen Sanktionen, sondern weise nur darauf hin, dass dem Menschen doch im Allgemeinen ein vielfältiges Spektrum an Möglichkeiten des Miteinanderumgehens gegeben ist. (Aber offensichtlich nicht fünfzehnjährigen Schülern im Frühlingserwachen.)
Den Lernerfolg der beiden folgenden Stunden möchte ich in diesem Zusammenhang übrigens unerwähnt lassen.
Das Rentnerleben
Eine Freistunde und eine kleine Hungerattacke fallen glücklich zusammen, und ich entferne mich aus der Zwangsanstalt, um mir etwas zu essen zu holen. Ich steuere Kaiser’s an, denn die bleich aufgebackenen Brötchen vom türkischen Zigarettenladen an der Ecke kriege ich nicht mehr herunter.
Schon beim Praktikum meiner Schüler, als ich mich viel in der Stadt herumtrieb, war mir aufgefallen, dass sich morgens hauptsächlich Rentner in den Geschäften befinden. Und mein kindisches Gemüt – wer weiß warum, vielleicht vom Märzsonnenschein verwirrt – schlägt mir ein kleines Rollenspiel vor: Ich bin jetzt Frührentnerin und gehe zu Kaiser’s, um mir etwas zum Frühstück zu kaufen.
Sofort falle ich aus meinem Stechschritt in eine betont langsame Gangart. Schade, jetzt klackern die Absätze nicht mehr so schön aggressiv auf dem Trottoir. Aber ich bin ja Frührentnerin. Ich habe Zeit und trage Gesundheitsschuhe, wegen meiner Ballen links.
Bei den Einkaufswagen vor Kaiser’s steht eine kleine Roma und lächelt mich liebreizend an, doch ich lasse mich nicht erweichen. Als Rentner muss man seine paar Kröten zusammenhalten. Ich muss für die Enkelkinder sparen. Bestimmt bekomme ich bald welche.
Der Wagen lässt sich nur schwer schieben und ist auch sehr groß. Was brauche ich so einen großen Wagen? Die Kinder sind aus dem Haus. Aber er ersetzt mir einen Rollator, auch gut. Danke, Herr Kaiser.
Der Eingang zum Laden ist verstopft. Zwei alte Damen haben es geschafft, ihren Wagen und ihre beiden Leiber gleichzeitig in, unter und zwischen das Drehkreuz zu fädeln. Jetzt stecken sie fest. Ich bringe mich helfend ein, alte Menschen müssen schließlich nett zueinander sein, denn sonst ist es niemand.
Im Geschäft greife ich gewohnheitsmäßig nach rechts, dorthin, wo immer der natürlich-trübe Apfelsaft steht, und stoße auf eine Palette Knäckebrot. Die Leute von Kaiser’s haben anscheinend nix Gescheiteres in ihrem Laden zu tun, als umzuräumen. Alles ist umgeräumt. Alles .
Vallah, ich rege mich auf. Was das? Ich kann mühelos ohne Zettel einkaufen, wenn alles da steht, wo es hingehört. Ich kaufe hier sowieso immer dieselben Sachen, aber jetzt bin ich voll verwirrt, ja, fast ein bisschen dement. Danke,
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