Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Herr Kaiser! Ich hoffe, wenn Sie mal einkaufen gehen, wahrscheinlich bei Feinkost Käfer oder so, dann dreht man Sie erst zehnmal um die eigene Achse und schubst Sie dann ins Regal. Mal sehen, wie flexibel Sie anschließend noch sind! Verbittert trabe ich weiter. Wo ist denn jetzt der Saft? Meine Stimmung ist verdunkelt. Das ist bei einkaufenden Rentnern gern so.
Ich gehöre zu den jungen Alten, bin also geradezu wie der Blitz unterwegs, jedenfalls gegen etliche Mitrentner. Trotzdem setzt ein junger Mensch von etwa fünfunddreißig Jahren, dessen Zugangsberechtigung für diesen Laden um diese Zeit hier komischerweise niemand kontrolliert, an, mich zu überholen. Blitzartig schlage ich meinen Wagen nach links ein und bremse den Raser aus. Der Jüngling guckt mich fragend an. Ich umkreise umständlich mein Gefährt, um es dann, quer zum Gang geparkt, stehen zu lassen. So viel Zeit muss sein, junger Mann. Schließlich bin ich bei den Brötchen angekommen, und Sie lassen mich jetzt mal schön vor …
Was soll ich essen? Ich grübele hin und her, und die Verkäuferin wird ungeduldig. Es ist unglaublich, wie rücksichtslos die alle sind! Da habe ich damals Deutschland mit bloßen Händen wiederaufgebaut, und die Nutznießer meiner Plackerei gönnen mir nicht einmal die kleinste Überlegung bezüglich der Auswahl meines zweiten Frühstücks.
An der Kasse tue ich, was Rentiere immer tun: Ich zähle das Geld genau ab. 6,37 Euro in Cents und Centpfennigen. Das dauert, aber die Kassiererin ist wegen des vielen Kleingelds froh.
Verträumt schlendere ich aus dem Laden. Der Tag dehnt sich vor mir aus wie eine weite Ebene, deren Ränder bläulich in der Ferne schimmern. Ich erkenne: Das Rentnerleben ist scheißlangweilig.
In der Schule tobt das Leben.
Ich esse mein Brötchen auf dem Hof.
Aynur rennt um mich herum wie ein wildgewordener Handfeger, Necla schreit mir markerschütternd ins Ohr, und Mustafa fuchtelt wie geistesgestört mit einem Zettel vor meiner Nase herum.
Kinder, Kinder, ihr treibt mich noch in die Frühpension!
Kein Problem
In der siebten Stunde fehlen von den zwölf Leuten meiner Theatergruppe sechs. Sind die uns im Laufe des langen Schultags verloren gegangen, oder kommen die noch? Ich forsche ihrem Verbleib nach und erfahre: Sina wurden wegen übermenschlich krasser Bauchschmerzen und Mir-ist-Schlecht nach Hause geschickt, Alf musste von seinem Vater abgeholt werden, weil er sich im Sportunterricht verletzt hat, und Theo ist ganz offensichtlich abgehauen. Betül, Hanna und Aynur sind auch verschollen. Keiner weiß, wo sie sind, in der Mittagspause waren sie noch da.
Seufzend fange ich an. Bloß womit? Wir quatschen erst mal ein bisschen über unsere Aufführung am Dienstag und loben uns alle gegenseitig, weil es so gut geklappt hat. Nur mit dem Publikum hatten wir Pech …
Nach etwa zehn Minuten öffnet sich die Tür, und Betül, Hanna und Aynur schleichen in die Aula.
«Wir waren noch Frau Roth. ’tschuldigung, Frl. Krise», sagt Aynur. «Wir mussten was klären mit sie!»
Wenn ich auf etwas allergisch reagiere, dann auf den Satz «Wir mussten was klären!». Andauernd müssen unsere Mädchen etwas klären. ANDAUERND!
Diese Klärungen legen sie natürlich bevorzugt in die Unterrichtszeit, während sie die Konflikte gern in die Pausen fallen lassen.
«Wegen der von gestern ihre Schwester?», ruft Gülten.
«Genau wegen sie», bestätigt Aynur und setzt eine kriegerische Miene auf. «Wegen diese behinderte Schlampe aus 8c!»
«Aynur!» Ich gucke sie streng an.
Aber Aynur lässt sich nicht so ohne weiteres ausbremsen: «Gülten, weißt du, die hat so Brille und trägt rosa Kopftuch mit Leomuster, die Fette!»
«Schluss!», rufe ich. «Was ist das denn für eine Ausdrucksweise? Hallo? Geht’s noch?»
«Aboooh, guck ma, Frl. Krise, die ist aber wirklich voll krass behindert, das Mädchen! Ich war Hof mit Betül und Hanna und mach gar nichts, ich schwöre, danach sie kommt und klatscht mir eine. Danach ich sage: ‹Deli misin nesin! Was glaubst du, wer du bist, Hurentochter!› Danach ich wollte sie schlagen. Danach ich habe die gefragt, wie sie heißt, aber sie hat mir nicht gesagt. Danach sie ist Haustür hochgegangen. Danach kam Aufsicht Herr Böck, und wir mussten Frau Roth gehen. Deshalb wir sind spät!»
Ich denke: Na, Frau Roth wird die Sache ja garantiert inhaltlich geklärt haben, aber das mit dieser Sprache geht auch gar nicht!
«So, Aynur, und jetzt erzählst du uns das Ganze
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