Ghost Street
direkt neben ihr standen. »Ich halte mich an Fakten. Und manchmal dauert es eben etwas länger, bis wir einen Täter am Wickel haben. Und jetzt verschwinden Sie endlich und lassen Sie uns arbeiten!«
Die Reporterin antwortete mit einem Lächeln und wandte sich der Kamera zu. »So weit Detective McAvoy, die wie die gesamte Polizei von Savannah und das FBI bisher nicht in der Lage war, dem grausamen Treiben des Klansmannes ein Ende zu bereiten. Melinda Stone, WASV Savannah.«
»Zicke!«, flüsterte Jenn wütend.
34
»Alessa!« Als hohles Echo, als würde jemand aus einer tiefen Gruft nach ihr rufen, hörte Alessa ihren Namen. Sie wich ängstlich vor der Dunkelheit zurück und klammerte sich mit beiden Händen an ihre Bettdecke, das Gesicht verzerrt in aufkommender Panik.
Der Sklavenjäger? War der Geist des bösen Mannes zurückgekehrt, um sich für die bittere Niederlage in der Ghost Street zu rächen? Würde er so lange mit seiner Peitsche auf sie einschlagen, bis sie bewusstlos auf dem Boden lag? Wollte er sie umbringen?
Etwas Unförmiges drang in ihr Zimmer und bewegte sich langsam auf sie zu. Ein körperloses Wesen, das kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden war. Sein heiserer Atem wurde immer lauter und hüllte sie wie eine übel riechende Schwefelwolke ein. Mit schattenhaften Armen griff es nach ihr. Schon spürte sie den Atem des unheilvollen Wesens auf ihrer Haut.
»Nein!«, schrie sie voller Angst. Sie wich vor dem fauchenden Wesen zurück und stieß so heftig gegen die Stirnseite ihres Bettes, dass stechender Schmerz durch ihren Kopf zuckte, sie abrupt die Augen öffnete und ungläubig in die Dunkelheit starrte. Nur ein Albtraum, das unheimliche Wesen hatte sich in Luft aufgelöst, sie war allein in ihrem dunklen Schlafzimmer.
Doch die Stimme hallte immer noch aus der vermeintlichen Gruft herauf. »Alessa! Alessa!«, tönte es. Aber es klang nicht mehr unheilvoll, sondern eher verzweifelt, darauf bedacht, sie vor einer großen Gefahr zu warnen.
Sie rieb mit der flachen Hand über die Beule an ihrem Hinterkopf und stieg aus dem Bett. Die Stimme zog sie auf magische Weise an. Obwohl sie dumpf und irgendwie unheimlich klang, hatte Alessa keine Angst mehr vor ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als wäre sie auf ihrer Seite und nur laut geworden, um sie vor dem bösen Geistwesen zu beschützen. Die Stimme eines geheimnisvollen Freundes.
Alessa zog sich in Windeseile an und schlich aus dem Zimmer. »Alessa! Alessa!«, schallte es ihr im Flur und auf der Treppe entgegen. Beinahe ängstlich und besorgt klang die Stimme jetzt, nur der unheimliche Tonfall passte nicht dazu. Alessa wagte nicht, das Licht anzuknipsen, hatte Angst, die Geisterstimme zu vertreiben, und stieg im Dunkeln ins Parterre hinunter. Die düstere Stimme kam aus dem Keller, aus dem unterirdischen Gang, durch den Alessa zum Friedhof gewandert war. Und das konnte nur bedeuten, dass …
Sie blieb auf der letzten Stufe stehen und starrte auf die dunkle Wand im Parterre. »David!«, flüsterte sie. »David! Bist du das?« Nein, das war ausgeschlossen, das konnte nicht sein. Es gab keine Geister, weder gute noch böse. David Bolton war schon lange tot und existierte nur in ihren Träumen und Gedanken. Ein typischer Fall von Überarbeitung und Stress. Kein Wunder bei dem Serienmörder, der ihre Behörde in Atem hielt, und dem Prozess, den ihr Jack Crosby aufgehalst hatte. Sie drehte langsam durch, verlor den Boden unter den Füßen. Sicher gab es eine wissenschaftliche Bezeichnung für dieses Phänomen. Wenn einem das Leben in der realen Welt zu viel wurde, floh man in eine Fantasiewelt mit bösen Geistern und einem starken Mann, der einen aus der Zwangslage befreite. So wie in Fantasy-Romanen.
Sie hatte diesen modernen Märchen nie etwas abgewinnenkönnen, und doch war sie in diesem Augenblick gerade dabei, sich in einer solchen Fantasiewelt zu verlieren. Ein Mann, der seit vierzig Jahren tot war, ihr heimliche Tipps gab und sie gegen die bösen Geister und Phänomene in der Ghost Street verteidigte … so ein Unsinn! So etwas gab es nicht! Sie war eine nüchterne Staatsanwältin, die vor allem logisch dachte und mit Geistern nichts am Hut hatte.
Sie wäre am liebsten wieder umgekehrt, doch die Stimme hallte noch immer aus dem Keller herauf: »Alessa! Alessa!« Etwas näher als zuvor und auch ungeduldiger und nicht mehr ganz so unheimlich. »David!«, rief Alessa.
Wenn sie wieder in den Geheimgang wollte, brauchte sie Licht. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher