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Ghost

Titel: Ghost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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der Passagierschlange an und versuchte im Sonntagsmagazin der Times zu lesen, wobei ich mich zum Schutz gegen den Wind der Wand zudrehte. Dort hing ein Holzschild, auf das die Worte IM GANZEN LAND ERHÖHTE GEFÄHRDUNGSTUFE gemalt waren. Es war zu dunkel, um das Meer zu sehen, aber ich konnte es riechen.
    Wenn man erst einmal angefangen hat, über etwas nachzudenken, ist es oft ein Problem, dass man nicht mehr damit aufhören kann. Die meisten Fahrer, die auf die Erlaubnis warteten, an Bord kommen zu dürfen, hatten wegen der Heizung den Motor laufen. Unwillkürlich suchte ich nach einem ockerfarbenen Ford Escape. Und auch dann, als ich an Bord ging und die scheppernden Metallstufen des Treppenschachts zum Passagierdeck hinaufstieg, fragte ich mich, ob McAra wohl den gleichen Weg genommen hatte. Hör auf damit, sagte ich mir, du machst dich wegen nichts und wieder nichts verrückt. Aber wahrscheinlich gehören Geister und Ghostwriter von Natur aus zusammen. Ich saß im vermieften Passagierraum und studierte die offenen, ehrlichen Gesichter meiner Mitreisenden. Als sich die Fähre schließlich rüttelnd vom Anlegeplatz löste, faltete ich die Zeitung zusammen und ging auf dem Oberdeck ins Freie.
    Es ist erstaunlich, wie das Zusammenwirken von Kälte und Dunkelheit alles verändert. An einem Sommerabend war die Überfahrt nach Martha’s Vineyard sicherlich ein Vergnügen. Ein großer gestreifter Schornstein wie aus dem Bilderbuch; dem Wasser zugewandte blaue Plastiksitzreihen, die über das gesamte Deck verlaufen; Familien in Shorts und T-Shirts, die Teenager gelangweilt, die Väter aufgekratzt. An diesem Januarabend jedoch lag das Deck verlassen da. Der von Cape Cod herüberblasende Nordwind schnitt durch Jacke und Hemd und verursachte mir eine Gänsehaut. Die Lichter von Woods Hole verblassten. An der Einfahrt in den Sund passierten wir eine Markierungsboje, die sich wie rasend hin und her warf, als wollte sie sich von einem Unterwassermonster losreißen. Die Glocke bimmelte im Rhythmus der Wellen wie eine Totenglocke, und der Gischt sprühte wie der gallige Geifer einer Hexe.
    Ich vergrub die Hände in den Taschen, zog den Kopf zwischen die Schultern und taperte unsicher zur Steuerbordseite hinüber. Die Reling war nur hüfthoch, und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie leicht McAra über Bord gegangen sein konnte. Ich musste mich festhalten, um nicht auszurutschen. Rick hatte recht. Die Trennlinie zwischen Unfall und Selbstmord ist nicht klar definiert. Man konnte sich umbringen, ohne jemals richtig darüber nachgedacht zu haben. Der bloße Akt des Sich-zu-weit-Vorlehnens und die Frage, wie kalt wohl das Wasser sei, kann einen vornüberkippen lassen. Man würde auf das wogende schwarze Eiswasser aufschlagen, drei Meter untertauchen, und bevor man wieder an die Oberfläche kam, wäre das Schiff vielleicht schon hundert Meter weiter. Ich hoffte, McAra hatte genug Schnaps intus gehabt, um sein Entsetzen zu betäuben, aber ich bezweifelte, dass irgendein Betrunkener auf dieser Welt nicht wieder nüchtern wurde, wenn er in Wasser stürzte, dessen Temperatur nur einen halben Grad über dem Gefrierpunkt lag.
    Niemand hatte seinen Sturz bemerkt! Das war das andere. Das Wetter war heute nicht annähernd so schlecht wie vor drei Wochen, und trotzdem war keine Menschenseele an Deck. Und dann fing ich richtig an zu zittern. Mir klapperten die Zähne wie bei einer aufziehbaren Blechpuppe.
    Ich ging nach unten, um mir an der Bar einen Drink zu genehmigen.
     
     
    *
     
    Wir umrundeten den West-Chop-Leuchtturm und erreichten den Fährhafen von Vineyard Haven kurz vor sieben Uhr abends. Als wir anlegten, rasselten die Ketten, und dann gab es einen dumpfen Schlag, bei dem ich fast die Treppe hinuntergestürzt wäre. Ich hatte kein Begrüßungskomitee erwartet, was auch gut war, denn es war keines da, nur ein älterer Inseltaxifahrer, der einen aus einem Notizbuch herausgerissenen Zettel mit meinem falsch geschriebenen Namen in die Höhe hielt. Als er mein Gepäck in den Kofferraum wuchtete, wirbelte der Wind ein großes Stück durchsichtige Plastikfolie auf, das sich verknäulte und dann flatternd über die Eisplatten des Parkplatzes trieb. Am Himmel wimmelte es von weißen Sternen.
    Ich hatte mir einen Reiseführer für die Insel gekauft, sodass ich eine vage Vorstellung davon hatte, was mich erwartete. Im Sommer bevölkern hunderttausend Menschen die Insel, aber wenn die Urlauber ihre Ferienwohnungen verrammeln und für den

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