Ghost
schlief sofort ein und wachte um zwei Uhr morgens wieder auf, als mich pünktlich wie Big Ben meine innere Uhr weckte. Ich suchte zehn Minuten lang nach der Minibar, bevor ich merkte, dass es gar keine gab. Einer plötzlichen Eingebung folgend, rief ich Kates Privatnummer in London an. Ich hatte keine Ahnung, was genau ich ihr eigentlich sagen wollte. Wie auch immer, es hob niemand ab. Anstatt wieder aufzulegen, fing ich unwillkürlich an, unzusammenhängendes Zeug auf ihren Anrufbeantworter zu sprechen. Sie war wahrscheinlich schon früh zur Arbeit gegangen. Oder sie war über Nacht gar nicht zu Hause gewesen. Das gab mir natürlich Stoff zum Nachdenken, was ich dann auch gebührend tat. Die Tatsache, dass ich niemandem außer mir selbst einen Vorwurf machen konnte, hob meine Laune kein bisschen. Ich duschte und legte mich wieder ins Bett, machte die Nachttischlampe aus und zog mir die klamme Bettdecke bis ans Kinn. Alle paar Sekunden tauchte das langsam pulsierende Licht des Leuchtturms mein Zimmer in ein fahl glühendes Rot. Ich muss Stunden so gelegen haben, mit weit offenen Augen, vollkommen wach und doch wie ein Geist. So verstrich meine erste Nacht auf Martha’s Vineyard.
*
Die Landschaft, die sich am Morgen aus der Dämmerung löste, war flaches Schwemmland. Jenseits der Straße, die unter meinem Fenster vorbeiführte, verlief ein Bach, dann kam eine Schilffläche und dahinter der Strand und das Meer. Ein hübscher viktorianischer Leuchtturm mit einem glockenförmigen Dach und einem schmiedeeisernen Balkon blickte über die Meerenge zu einer etwa eine Meile entfernten langen, flachen Landzunge. Das musste Chappaquiddick sein. Über dem seichten, gekräuselten Wasser stieg eine Formation aus Hunderten von winzigen weißen Seevögeln in die Höhe, dicht geschlossen wie ein Fischschwarm, vollführte scharfe Zickzackbewegungen und stieß wieder herab.
Ich ging nach unten und bestellte mir ein riesiges Frühstück. Von dem kleinen Zeitungsständer neben der Rezeption nahm ich mir die New York Times. Die Geschichte, nach der ich suchte, war im Auslandsteil begraben und dort – um ein Höchstmaß an Unauffälligkeit zu gewährleisten – weit unten auf der Seite ein zweites Mal begraben:
London (AP) – Der frühere britische Premierminister Adam Lang genehmigte nach Berichten von Londoner Sonntagszeitungen den illegalen Einsatz britischer Spezialtruppen, um in Pakistan vier mutmaßliche El-Kaida-Terroristen festzunehmen und zu Verhören an die CIA zu übergeben.
Die britischen Staatsbürger Nasir Ashraf, Shakeel Qazi, Salim Khan und Faruk Ahmed wurden vor fünf Jahren in der pakistanischen Stadt Peschawar festgenommen. Alle vier wurden angeblich an geheime Orte außer Landes gebracht und dort gefoltert. Nasir Ashraf soll bei den Verhören gestorben sein. Shakeel Qazi, Salim Khan und Faruk Ahmed waren anschließend drei Jahre in Guantanamo interniert. Heute befindet sich nur noch Faruk Ahmed in amerikanischem Gewahrsam.
Laut Dokumenten, die der Londoner Sunday Times vorliegen, hat Adam Lang die »Operation Tempest«, ein geheimes Kommandounternehmen der Eliteeinheit Special Air Services (SAS) zur Verschleppung der vier Männer, persönlich genehmigt. Eine derartige Operation hätte sowohl gegen britisches als auch internationales Recht verstoßen.
Das britische Verteidigungsministerium lehnte gestern Abend einen Kommentar bezüglich der Echtheit der Dokumente oder der Existenz einer »Operation Tempest« ab. Eine Sprecherin vom Adam Lang erklärte, der ehemalige Premiermimster habe nicht die Absicht, eine Stellungnahme abzugeben.
Ich las den Artikel dreimal durch. Er schien nicht viel herzugeben. Oder doch? Inzwischen konnte man das nicht mehr so genau sagen. Der moralische Kompass funktioniert nicht mehr so präzise, wie er das früher einmal tat. Methoden, die für unsere Väter jenseits des Erlaubten lagen, sogar während des Kampfes gegen die Nazis – Folter beispielsweise –, gelten heute anscheinend als annehmbares zivilisiertes Verhalten. Ich ging davon aus, dass die zehn Prozent der Bevölkerung, die solche Dinge beunruhigten, von dem Bericht entsetzt waren – vorausgesetzt, dass sie ihn überhaupt jemals zu Gesicht bekamen. Die restlichen neunzig Prozent zuckten wahrscheinlich nur die Achseln. Die freie Welt unternahm einen Spaziergang auf die dunkle Seite – was erwarteten die Leute?
Ich hatte ein paar Stunden totzuschlagen, bis der Wagen mich abholen würde, also spazierte
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