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Ghost

Titel: Ghost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Winter westwärts ziehen, bleiben gerade einmal fünfzehntausend übrig. Das sind die zähen Eingeborenen der Insel, Leute, die das Festland »Amerika« nennen. Es gibt ein paar Landstraßen, eine Ampel und Dutzende von langen sandigen Wegen, die zu Orten mit Namen wie Squibnocket Pond und Job’s Neck Cove führen. Während der ganzen Fahrt musterte mich mein Fahrer mit seinen wässrigen Augen im Rückspiegel, sagte aber kein einziges Wort. Als sich unsere Blicke zum zwanzigsten Mal trafen, fragte ich mich, ob es einen Grund dafür gab, warum er sich über die Fuhre ärgerte. Vielleicht hielt ich ihn von etwas ab. Allerdings konnte man sich kaum vorstellen, wovon. Die Straßen rund um den Fährhafen lagen größtenteils wie ausgestorben da, und nachdem wir Vineyard Haven hinter uns gelassen hatten und auf die Inselhauptstraße eingebogen waren, gab es außer Dunkelheit nichts mehr zu sehen.
    Ich war jetzt seit siebzehn Stunden unterwegs. Ich wusste nicht, wo ich war oder wie die Landschaft aussah, durch die ich fuhr, nicht mal, wohin ich fuhr. Alle Versuche, ein Gespräch anzufangen, waren fehlgeschlagen. Außer meinem Spiegelbild in der kalten, dunklen Fensterscheibe sah ich nichts. Ich fühlte mich, als hätte ich den äußersten Rand der Welt erreicht, wie ein englischer Forscher aus dem 17. Jahrhundert, dessen erste Begegnung mit den eingeborenen Wampanoag kurz bevorstand. Ich gähnte laut und hielt mir schnell den Handrücken vor den Mund.
    »Entschuldigung«, sagte ich zu den geisterhaften Augen. »Wo ich herkomme, ist jetzt schon Mitternacht.«
    Er schüttelte den Kopf. Erst wusste ich nicht, ob die Geste Mitgefühl oder Missfallen ausdrückte, dann begriff ich, was er mir sagen wollte: Es hat keinen Zweck, mit mir zu reden, ich bin taub. Ich starrte wieder aus dem Fenster.
    Schließlich kamen wir an eine Kreuzung, wo wir links nach – so meine Vermutung – Edgartown abbogen, eine Ortschaft, die aus weißen Schindelhäusern mit weißen Lattenzäunen, kleinen Gärten und Veranden bestand und von verschnörkelten viktorianischen Straßenlaternen beleuchtet war. Neun von zehn Häusern lagen dunkel da, aber in den wenigen gelb leuchtenden Fenstern sah ich flüchtig Ölgemälde mit Segelschiffen und backenbärtigen Vorfahren vorbeihuschen. Am Fuß des Hügels, jenseits der Old Whaling Church, warf ein großer, dunstiger Mond sein silbriges Licht über die Schindeldächer und ließ die Umrisse der Masten im Hafen hervortreten. Aus ein paar Schornsteinen kringelte Holzrauch. Ich kam mir vor, als führe ich in eine Filmkulisse für Moby Dick. Die Scheinwerfer beleuchteten kurz ein Hinweisschild für die Fähre nach Chappaquiddick, und kurz darauf hielten wir vor dem Hotel Lighthouse View.
    Ich stellte mir die Veranda im Sommer vor: übersät mit Eimern, Spaten und Keschern, vor der Tür Schnursandalen, eine Spur aus feinem weißem Sand, die vom Strand heraufführte – etwas in der Art. Außerhalb der Saison knarzte und krachte der große alte Holzbau jedoch wie ein Segelboot, das auf ein Riff aufgelaufen war. Schätzungsweise wartete das Management bis zum Frühling, bevor es die stellenweise aufgeplatzte Farbe durch einen frischen Anstrich ersetzte und die Salzkruste von den Fenstern wusch. In der Dunkelheit donnerte die Brandung. Ich stand mit meinem Koffer in der Hand auf den Holzbohlen und schaute fast wehmütig dem Taxi hinterher, dessen Rücklichter hinter der Hausecke verschwanden.
    In der Lobby überreichte mir eine Hotelangestellte, die als viktorianisches Hausmädchen mit weißer Spitzenhaube herausgeputzt war, eine Nachricht aus Langs Büro. Man werde mich morgen früh um zehn Uhr abholen, zwecks Identifizierung durch die Sicherheitsleute solle ich meinen Pass bereithalten. Allmählich kam ich mir vor wie auf einer Schnitzeljagd: Sobald ich einen Standort erreichte, übergab man mir einen neuen Katalog mit Anweisungen, um zum nächsten Punkt vorzurücken. Das Hotel war leer, das Restaurant dunkel. Man sagte mir, dass ich jedes Zimmer haben könne, das ich wolle, und so suchte ich mir eines im ersten Stock aus, in dem ein Schreibtisch stand und Fotografien von Old Edgartown an der Wand hingen: das John Coffin House, zirka 1890, und der Walfänger Splendid in der Osborn-Werft, zirka 1870. Nachdem das Mädchen gegangen war, legte ich den Laptop, meine Fragenliste und die Geschichten, die ich aus den Sonntagsblättern herausgerissen hatte, auf den Schreibtisch und streckte mich auf dem Bett aus.
    Ich

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