Ghost
ein, schaltete die Schreibtischlampe an und betrachtete nachdenklich den leeren Schirm und den blinkenden Cursor.
Ein ungeschriebenes Buch ist ein wunderbares Universum voll unendlicher Möglichkeiten. Steht jedoch das erste Wort erst einmal da, ist es sofort geerdet. Und steht der erste Satz da, ist man schon auf halbem Wege zu einem Buch, das genau so werden wird wie jedes andere verdammte Buch, das jemals geschrieben wurde. Aber dem Besten darf man nie gestatten, das Gute zu verjagen. Wo es an Genius fehlt, bleibt einem immer das Handwerk. Man kann zumindest versuchen, etwas zu schreiben, das die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt – etwas, was ihn, nachdem er das erste Kapitel gelesen hat, ermuntert, auch das zweite und dann das dritte zu lesen. Ich warf einen Blick in McAras Manuskript, um mich daran zu erinnern, wie man eine Zehn-Millionen-Dollar-Autobiografie nicht anfangen sollte:
KAPITEL EINS
Die frühen Jahre
Langs Schottenclan, so haben sie uns früher immer gerufen. Und wir waren stolz darauf. Unser Name ist eine Ableitung von »long«, altenglisch für »groß«. Aus jenem Land nördlich der Grenze stammen meine Vorfahren, und man muss bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückgehen, um die ersten Langs ...
Gott im Himmel! Ich strich den Anfang durch und fuhr mit dicken blauen Zickzacklinien durch alle folgenden Absätze, in der die Geschichte von Langs Vorfahren abgehandelt wurde. Wenn Sie einen Familienstammbaum wollen, versuchen Sie’s im nächsten Gartencenter – das sage ich allen meinen Kunden. Interessiert keinen Menschen. Maddox’ Anweisung lautete, das Buch mit den Kriegsverbrecher-Anschuldigungen zu beginnen. Was mir recht war, auch wenn sie nur als eine Art lange Einleitung dienen konnten. Irgendwann mussten die eigentlichen Memoiren anfangen, und dafür schwebte mir ein frischer, eigenständiger Ton vor – einer, der Lang wie ein normales menschliches Wesen erscheinen ließ. Die Tatsache, dass er kein normales menschliches Wesen war, spielte dabei keine Rolle.
Ich hörte Schritte in Ruth Langs Zimmer, dann, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Zunächst glaubte ich, dass sie vielleicht wissen wollte, wer da im Zimmer neben ihr herumlief, aber stattdessen ging sie in die andere Richtung. Ich legte McAras Manuskript zur Seite und wandte mich den Interviewprotokollen zu. Ich wusste, was ich wollte. Gleich bei unserer ersten Sitzung war ich darauf gestoßen:
Ich weiß noch, es war Sonntagnachmittag, es hat geregnet, und ich hab immer noch im Bett gelegen, da hör ich, wie jemand an die Tür klopft ...
Wenn ich die Grammatik ein bisschen aufpolierte, würde die Schilderung, wie Ruth es geschafft hatte, Lang für den Kommunalwahlkampf anzuwerben und so in die Politik einzuführen, einen perfekten Einstieg abgeben. Und McAra mit seiner charakteristischen Ignoranz für alles Menschelnde hatte die Episode nicht einmal erwähnt. Ich legte meine Finger auf die Tastatur des Laptops und fing an zu tippen:
KAPITEL EINS
Die frühen Jahre
Politiker bin ich aus Liebe geworden. Nicht aus Liebe zu einer bestimmten Partei oder Ideologie, sondern aus Liebe zu einer Frau, die eines regnerischen Sonntagnachmittags an meine Tür klopfte ...
Gewiss hört sich das schmalzig an, aber man darf nicht vergessen, dass man Schmalz in Riesenbottichen verkauft, dass ich in nur zwei Wochen das gesamte Manuskript zu überarbeiten hatte und dass es so sicher wie das Amen in der Kirche besser war, mit dieser Episode anzufangen als mit der Ableitung des Namens Lang. Schon bald hämmerte ich vor mich hin, so schnell es mir mein Zweifingersystem erlaubte:
Sie war vom strömenden Regen klatschnass, aber das schien sie nicht zu stören. Sofort hob sie zu einer leidenschaftlichen Rede über die Kommunalwahlen an. Bis zu dieser Minute, muss ich zu meiner Schande gestehen, habe ich nicht mal gewusst, dass an diesem Tag überhaupt Kommunalwahlen stattfanden. Allerdings war ich schlau genug, so zu tun, als wüsste ich Bescheid ...
Ich schaute auf. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie Ruth mit entschlossenen Schritten über die Dünen marschierte. Ein weiterer ihrer grüblerischen, einsamen Spaziergänge gegen den Wind, bei dem sie lediglich von dem mit Abstand folgenden Leibwächter begleitet wurde. Ich sah ihr nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwand, und machte mich dann wieder an die Arbeit.
*
Ich arbeitete ein paar Stunden durch, bis
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