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Ghost

Titel: Ghost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ich etwa gegen ein Uhr hörte, wie jemand ganz leicht mit den Fingerspitzen auf Holz klopfte. Ich schrak hoch.
    »Mister?«, sagte eine schüchterne weibliche Stimme. »Sir? Sie wollen Lunch?«
    Ich stand auf und öffnete die Tür. Es war Dep, die vietnamesische Haushälterin in ihrer schwarzen Seidenuniform. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und so winzig wie ein Vogel. Wenn ich jetzt nieste, dachte ich, würde es sie bis ans andere Ende des Hauses wehen.
    »Das wäre sehr nett, danke.«
    »Hier oder in Küche?«
    »Ich komme in die Küche, vielen Dank.«
    Nachdem sie auf ihren Pantoffeln davongeschlurft war, drehte ich mich um. Ich wusste, dass ich es nicht mehr länger aufschieben konnte. Mach’s wie beim Schreiben, sagte ich mir: Fang einfach an. Ich legte meinen Koffer aufs Bett und zog den Reißverschluss auf. Dann atmete ich tief durch, schob die Türen des Kleiderschranks zur Seite und fing an, McAras Sachen von den Kleiderbügeln zu nehmen und mir über den Arm zu stapeln – billige Hemden, Jacketts von der Stange, Hosen aus dem Kaufhaus und die Sorte von Krawatten, die man am Flughafen bekam: Für dich gab’s keine maßgeschneiderten Klamotten, was, Mike? Alle Hemden und Hosen hatten Übergröße: Er war ein großer Bursche gewesen, viel größer als ich. Natürlich kam es genau so, wie ich befürchtet hatte: Die Berührung der ungewohnten Stoffe, sogar das Klappern der Metallbügel auf der verchromten Kleiderstange, genügte, um den im Lauf eines Vierteljahrhunderts sorgsam errichteten Schutzwall niederzureißen und mich auf direktem Weg in das Schlafzimmer meiner Eltern zurückzukatapultieren, das ich unter größter Willensanstrengung drei Monate nach der Beerdigung meiner Mutter ausgeräumt hatte. Der Anblick der Habseligkeiten von Toten geht mir immer an die Nieren. Gibt es etwas Traurigeres als den übrig gebliebenen Krempel eines Toten? Wer sagt, dass nur unsere Liebe bleibt? Was von McAra blieb, war Krempel. Ich legte die Kleidungsstücke über einen Armsessel und griff in das Schrankfach oberhalb der Kleiderstange, wo sein Koffer lag. Ich hatte damit gerechnet, dass er leer war, aber als ich ihn nach vorn zog, verrutschte im Inneren etwas. Aha, dachte ich. Endlich. Das geheime Dokument.
    Der Koffer aus hässlichem rotem Plastik war so riesig und sperrig, dass er mir aus der Hand rutschte und auf den Boden knallte. Der dumpfe Aufprall schien in der Stille des Hauses widerzuhallen. Ich hielt einen Augenblick inne, kniete mich dann auf den Boden und drückte auf die beiden Schlösser, die gleichzeitig mit einem lauten Schnappgeräusch aufsprangen.
    Bei dem Koffer handelte es sich um eine Art Gepäckstück, das man schon seit über zehn Jahren nicht mehr produzierte, außer vielleicht in den weniger eleganten Gegenden Albaniens. Er war mit einem abscheulich gemusterten Plastikfutter ausgeschlagen, an dem gekräuselte Gummibänder baumelten. Der Inhalt bestand aus einem einzigen großen wattierten Umschlag, der an M. McAra Esq. mit Postfachnummer in Vineyard Haven adressiert war. Laut Aufkleber auf der Rückseite war der Absender das Adam Lang Archiv Centre in Cambridge, England, gewesen. Ich öffnete den Umschlag und zog einen Packen Fotografien und Fotokopien heraus, an dem ein Kärtchen mit den besten Empfehlungen von Dr. phil. Julia Crawford-Jones, Direktorin, klemmte.
    Eine der Fotografien erkannte ich sofort: Lang in seinem Hühnchenkostüm bei der Footlights Revue aus den frühen Siebzigern. Außerdem befanden sich in dem Umschlag: ein Dutzend anderer Fotografien mit dem ganzen Ensemble; ein Satz Fotos von Lang mit Strohhut und gestreiftem Blazer auf einem Flussboot; drei oder vier Fotos von einem Picknick am Flussufer, die anscheinend am selben Tag wie die Fotos auf dem Boot aufgenommen worden waren. Bei den Fotokopien handelte es sich um diverse Footlights-Programmzettel, Theaterkritiken aus Cambridge und um jede Menge Berichte aus der Lokalpresse über die Wahlen für das Greater London Council vom Mai 1977. Außerdem war eine Kopie von Langs Original-Parteiausweis beigelegt. Als ich das Datum las, wäre mir der Ausweis vor Überraschung fast aus der Hand gefallen. Er stammte aus dem Jahr 1975.
    Dann machte ich mich daran, das ganze Paket noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich fing mit den Wahlberichten an. Beim ersten Durchblättern war ich davon ausgegangen, dass sie aus dem Evening Standard stammten, aber jetzt sah ich, dass es sich um die Broschüre einer politischen Partei

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